Fernpunkt

Der Segen der Auslese

Wie entsteht Fortschritt?

(Fortsetzung von Teil 1)

Was also findet tatsächlich statt? Es ist nicht möglich, vorteilhafte Konzepte prinzipiell vor ihrer Umsetzung auszuwählen, denn oft ist es erst die Umsetzung, die im Laufe der Zeit aufzeigt, ob und in welchem Maße ein Konzept vorteilhaft ist. Deshalb entsteht ein großer Teil des Fortschritts nicht so, dass alle gemeinsam in die Richtung marschieren, von der alle wissen, oder von der eine anerkannte Elite weiß, dass es die richtige ist. Vielmehr werden zunächst von verschiedener Seite verschiedene Konzepte favorisiert und vorangetrieben, also auch die schlechteren - oder besser: die, welche sich später als die schlechteren erweisen. Erst im Verlauf der weiteren Ereignisse gelangen die einen Konzepte zum allgemeinen Durchbruch, während die anderen in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Dass durch solche Vorgänge tatsächlich der Fortschritt der Menschheit erklärt werden kann, ist nicht sofort einsichtig. Das Verdrängen von Konzepten durch andere Konzepte ist erst einmal nur eine Veränderung und nicht per se eine Verbesserung. Damit auf diese Art in der Summe tatsächlich Fortschritt entsteht, müssten die Konzepte, die sich durchsetzen, überwiegend die besseren sein. Die Frage lautet also: Sind sie das?

Man könnte zum Beleg auf die kollektive Erfahrung verweisen und eine Vielzahl von historischen Beispielen anbringen. Analogie soll hier aber nicht das entscheidende Argument sein. Es gibt eine Logik, die den Fortschritt dieser Art begründet. Es lässt sich erkennen, dass die Mechanismen, die Konzepte aufblühen oder verkümmern lassen, im Allgemeinen die Besseren unter diesen bevorzugen.

Das beginnt bei dem Vorgang, der den Alltag in der Gesellschaft bestimmt und mit Sicherheit die größte Wirkung auf den Werdegang der Konzepte hat: das Verfolgen individueller Interessen. Dabei werden von der Gesamtheit der Menschen unzählige kleine Entscheidungen zugunsten oder zuungunsten der verschiedenen Konzepte getroffen, zum Beispiel:

  • beim privaten Einkauf,
  • bei der Arbeitssuche,
  • bei der Geldanlage,
  • bei der Freizeitgestaltung.

Diese Entscheidungen sind in ihrer großen Zahl enorm folgenschwer und formen das Leben in der Gemeinschaft.

Dabei genügt es, wenn die Entscheidungsträger von dem, worüber sie entscheiden, verstehen, in welcher Weise es ihre eigenen Interessen berührt. So verändert das Verfolgen individueller Interessen in der Masse auch Bereiche, in welche die Masse gar keinen Einblick hat. Wenn zum Beispiel zwei vergleichbare Produkte mit verschiedenen Produktionsverfahren hergestellt werden, wodurch das eine billiger ist, dann wird sich dieses sehr viel besser verkaufen als das andere. Dies allein bewirkt den Aufstieg des einen Produktionsverfahrens und den Untergang des anderen. Es ist kein Einzelner, der die Entscheidung trifft, sondern die Wirkung entsteht durch das gleichartige Verhalten Vieler. Die Manager der herstellenden Unternehmen sind gegen diese Entwicklung machtlos; das einzige, worüber sie entscheiden, ist die Zukunft des jeweiligen Unternehmens. Über das Produktionsverfahren, das am Ende dominiert, entscheiden die Verbraucher mit ihrem Verhalten, obwohl sie von den beiden Verfahren nicht das Geringste verstehen.

Die Absichten eines Menschen verhalten sich positiv zu seinen Interessen und schlimmstenfalls neutral zu den Interessen der Mitmenschen. Kaum einer zielt darauf ab, anderen zu schaden. Deshalb ist bei individuellen Entscheidungen tendenziell eine Bevorzugung der besseren Konzepte anzunehmen.

Tatsächlich verdanken wir die meisten Bestandteile unserer Lebensqualität diesem Mechanismus. Er ist das Arbeitspferd des Fortschritts, seine Produkte umgeben uns in allen Bereichen:

  • Grundlegende Konzepte wie Gebäude, Landwirtschaft oder Handel.
  • Produkte und Dienstleistungen sowie die Produktionsmittel, die sie ermöglichen und für die Allgemeinheit verfügbar machen.
  • Sämtliche Genres der Kultur einschließlich ihrer jeweiligen Utensilien und Stilmittel.

Entscheidungen zu direkten Gunsten individueller Interessen verhelfen freilich nicht immer dem besten Konzept zum Durchbruch oder bevorzugen es auch nur. Es gibt Beispiele für schlechte Konzepte, die durch sie befördert werden, zum Beispiel alle Arten von Rücksichtslosigkeit. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass Menschen Staaten bilden. Auf der Ebene des Staates lassen sich Regeln einsetzen, die das individuelle Verhalten vorteilhaft beeinflussen, zum Beispiel durch Androhung von Strafe. Unerwünschten Konzepten kann so durch Mechanismen auf einer höheren Ebene entgegen gewirkt werden.

Auch auf dieser Ebene herrschen Konzepte vor, die sich gegen andere durchgesetzt haben. Der Vergleich zwischen Staaten, die in einem Bereich verschiedene Konzepte verfolgen, zeigt auf, wie leistungsfähig diese Konzepte sind. Die Instanzen, die über die Konzepte entscheiden, etwa Parlamente, können diese Information auswerten und sich von den weniger leistungsfähigen Konzepten trennen. Nicht in jedem Fall ist der Vergleich wirklich nötig, um das beste Konzept zu erkennen, aber in vielen eben doch. Sobald sich die Entscheidungsträger dem Interesse der Gemeinschaft verpflichten und in der Lage sind, die Effekte verschiedener Konzepte auf die Lebensqualität zu vergleichen, setzen sich auch in diesem Bereich tendenziell die besseren Konzepte durch.

Versagt der Mechanismus auf dieser Ebene, etwa unter einer Diktatur, dann besteht die Chance, dass das Volk rebelliert und den Zustand gewaltsam ändert. In der großen Mehrheit werden dabei keine völlig neuen Gesellschaftsordnungen angestrebt, sondern solche, die ihre Lebensqualität schon bewiesen haben. Wieder ist von einer Tendenz zum Durchsetzen der vorteilhafteren Konzepte auszugehen.

Mit diesen Vorgängen ist ein Großteil des Fortschritts erfasst. Sie alle folgen dem gleichen Muster: Fortschritt entsteht nicht durch ein elegantes vorgelagertes Aussortieren von Ideen, sondern durch ein brutales Absterben mehr oder weniger entwickelter Konzepte, die gegenüber anderen, parallel existierenden Konzepten unterlegen sind. Es findet eine Auslese statt.

Gleichzeitig beginnt kaum ein Vorreiter mit seinen Ideen bei Null, sondern es kommen überwiegend bewährte Elemente zum Einsatz, die nur um wenige Neuerungen ergänzt oder in einer neuen Weise verknüpft werden. Die frisch erfundene Druckerpresse ist in Wahrheit eine modifizierte Saftpresse. Die neue Musikrichtung verwendet die gleichen Instrumente und Tonleitern wie die alten. Die eben ersonnene Gesellschaftsordnung enthält wieder eine Einkommensteuer und ein Strafrecht, ganz wie die bestehenden. Selbst, wenn ein Erfinder mit einer Zeitmaschine daher käme, fänden sich darin nach aller Wahrscheinlichkeit viele vertraute Bauteile wieder. Die miteinander konkurrierenden Konzepte lassen sich deshalb als Variationen des zuvor Vorhandenen auffassen. Sie beruhen überwiegend auf den überlebenden Konzepten der vorausgegangenen Generation und modifizieren diese auf unterschiedliche Art.

Das Zusammenspiel von ständiger Variation und ständiger Auslese bewirkt eine Entwicklung. Eine Intelligenz, die über den Dingen steht und den Prozess wissentlich auf die komplexen, ingeniös erscheinenden Zustände hinsteuert, die er am Ende erreicht, ist dazu nicht erforderlich. Damit weist unser menschlicher Fortschritt eine gewisse Parallele zu einem aus der Biologie bekannten Vorgang auf: der Entwicklung der Arten.

Häufig stößt diese Feststellung auf Ablehnung, teilweise schon in Bezug auf die Geschichte (dem Ist), noch häufiger, wenn es um die Frage nach dem Erstrebenswerten geht (dem Soll).

Im letzteren Fall läuft die Begründung üblicherweise auf die Grausamkeit der Auslese hinaus. Tatsächlich wäre ein Vorgang in der Art des Überlebenskampfes von Tieren und Pflanzen das Erste, das man aus der menschlichen Gesellschaft verbannen wollte. In der Natur bedeutet Auslese ein endloses Ringen, das für die Verlierer das Ende bedeutet, ja aus dem selbst die Erfolgreichen nicht mehr gewinnen als die Gnade, von diesem Schicksal vorerst verschont zu bleiben. Was bei solchen Gedanken übersehen wird: So weit reicht sie gar nicht, die Parallele zwischen kultureller und biologischer Evolution. Die Auslese von Konzepten ist allenfalls ansatzweise grausam. Unter dem Verschwinden von Konzepten leiden Minderheiten, für welche diese Konzepte ein größerer Vorteil waren, als es die insgesamt besseren Konzepte sind, die sie verdrängen, zum Beispiel weil sie als Fachleute mit ersteren verbunden sind. Diese Menschen sind aber erstens nicht selbst Gegenstand der Auslese, wie es etwa der Sozialdarwinismus vorsieht. Zweitens lassen sich in der Gemeinschaft Regeln praktizieren, die den Nachteil für die Betroffenen vermindern. Insgesamt ist das weitgehende Aussterben der weniger tauglichen Konzepte keine Grausamkeit, sondern ein Segen. Grausam wäre, sie würden nicht aussterben, und wir müssten auf alle Zeit mit den jeweils naheliegendsten Einfällen unseres begrenzten Verstandes leben.

Auch an anderen Stellen findet die Parallele ihre Grenzen. So ist die kulturelle Evolution im Gegensatz zur biologischen nichts, das wie eine Naturgewalt von alleine über eine passive Menschheit hereinbricht. Wir Menschen sind die Träger und Veranstalter dieser Entwicklung; wir schaffen die Variation, und wir sorgen für die Selektion, sei es mit Entscheidungen auf der individuellen oder der staatlichen Ebene.

Ebenso unterscheiden sich die beiden Prozesse hinsichtlich ihrer Entwicklungsrichtung. Die Entwicklung einer Pflanzen- oder Tierart hat keine feste Richtung. Sie verläuft nicht zum Komplexeren oder sonstwie Höheren hin, sondern folgt nur den Zwängen der Umwelt. Aus der Richtung, in die sich eine Art in der Vergangenheit entwickelt hat, lässt sich für deren weitere Entwicklung in der Zukunft nichts schlussfolgern. Der Analogieschluss, auch die Entwicklung eines kulturellen Konzepts oder gar die gesamte kulturelle Evolution sei deshalb ungerichtet, ist aber falsch. Variation und Auslese passen ein Konzept nicht wie eine biologische Art an wechselnde Umweltbedingungen an, sondern formen es zugunsten des relativ konstanten menschlichen Wunsches nach einem angenehmen und erfüllten Leben.

(Fortsetzung in Teil 3)

11.12.2013

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