Fernpunkt

Das Märchen vom Vordenker

Kurz: Kaum einer, der für eine Idee bekannt wurde, war der Erste, der diese Idee hatte.

Es ist sehr einfach, nicht mehr als ein Quäntchen Allgemeinwissen, verbunden mit einem Hauch von Logik und Mathematik. Es ist so banal, dass ich nicht sicher bin, irgendeinem Leser etwas Neues mitzuteilen. Vielleicht entsteht nur manchmal durch unglückliche Wortwahl der Eindruck, jemand sähe die Dinge anders. Also: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der, der für eine Idee bekannt geworden ist, der Erste war, der diese Idee hatte?

Zunächst einmal ist sie identisch zur Wahrscheinlichkeit, dass der, der die Idee als Erster hatte, damit bekannt geworden ist. Diese Wahrscheinlichkeit wiederum hängt vom Weg ab, der von der Idee zur allgemeinen Bekanntheit führt. Sie läge nahezu bei 100%, wenn dieser Weg eine Art Automatismus wäre, und sie ginge umgekehrt gegen Null, wenn er nur unter seltenen Umständen bis zum Ende genommen würde.

Wie also sieht dieser Weg aus?

Als Beispiel soll eine im weitesten Sinne theoretische Idee herhalten, also eine weltanschauliche oder wissenschaftliche. Der Weg zu allgemeiner Bekanntheit beginnt hier mit der Vermutung, die eigene Idee sei neu und zumindest in Fachkreisen noch unbekannt. Für diese Vermutung braucht es entweder einen ausgezeichneten Überblick über den Diskussionsstand des Fachs oder aber eine sehr hohe Meinung vom eigenen Verstand. Wer realistisch denkt und nicht in der betroffenen Fachwelt zu Hause ist, der muss annehmen, dass seine Idee ein alter Hut ist, denn die übrigen Menschen sind ja auch nicht dumm, und außerdem sind es sehr viele. Diese Annahme ist leider auch in den seltenen Fällen vernünftig, wo sie falsch ist. Schon an dieser Stelle steht also die erste Hürde zwischen Idee und allgemeiner Bekanntheit, und sie markiert das Ende des Weges für alle, die weder Experten sind noch größenwahnsinnig.

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J. Tromeur | A. Volpicelli

Zweitens braucht es den Wunsch und die Bereitschaft, sich nicht nur über die Idee zu freuen und es dabei zu belassen, sondern daraus ein Projekt zu machen, sie tiefer zu ergründen, und sie auch anderen Menschen nahezubringen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn natürlich konkurrieren solche Bemühungen mit den anderen Plänen, die ein Mensch für sein Leben so haben kann, um Zeit und Energie.

Früher oder später muss die Idee in einem Format aufbereitet werden, in dem sie überhaupt die Chance hat, ernst genommen zu werden, zum Beispiel als Buch. Dabei gibt es keine Variante, die mit geringem Aufwand auskommt. Die Theorie muss untermauert werden. Das erfordert Fleiß und Fähigkeiten auf verschiedenen Gebieten, von der wissenschaftlichen Methodik bis hin zur Sprache. Der Text muss die Idee präzise beschreiben und gleichzeitig verständlich sein. Außerdem sind diese Arbeiten zeitaufwändig, d.h. wenn das Projekt nicht Teil der Ausbildung oder der beruflichen Betätigung ist, dann sind entsprechende Mengen an Freizeit nötig. Kurz: Der Weg von der Idee zum geeigneten Text ist die dritte Hürde.

Viertens muss der Text zur Veröffentlichung gelangen. Das kann als Artikel in einer Fachzeitschrift erfolgen oder als Buch bei einem Verlag. An beiden Schauplätzen tobt ein Krieg um den begrenzten Raum für Publikation, mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern. Die meisten Texte werden nicht gedruckt. Manuskripte für Sachbücher werden heute ganz überwiegend von den Verlagen nicht einmal gelesen, weil dafür keine Ressourcen vorhanden sind. Die negative Entscheidung fällt schon aufgrund von Rahmeninformationen. Gedruckt wird, was gekauft wird, und gekauft werden vor allem Bücher bekannter Autoren.

Blickt man in der Zeit zurück, dann verändert sich das Publikationsproblem, ohne aber geringer zu werden. Vor 200 Jahren bestand die Schwierigkeit nicht darin, mit hundert anderen Schreibern um eine einzelne Veröffentlichung zu konkurrieren, sondern darin, dass der Sitte folgend als Buchautoren prinzipiell nur Adlige, Professoren und hohe Beamte in Frage kamen. Autoritäten eben, darin liegt ja der Ursprung des Wortes "Autor". In dem Maße, wie das frühere Publikationsproblem sich verminderte, wuchs das spätere. Schwierig war das Veröffentlichen zu jeder Zeit.

Die fünfte und letzte Teilstrecke führt vom veröffentlichten Text zur allgemeinen Bekanntheit. Ob dieser Schritt gegangen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab.

Das beginnt damit, dass viele Erdenbürger eine Muttersprache mit bescheidener Reichweite haben. Ein Text in einer solchen Sprache wird schwerlich global bekannt, bevor es zu einer Übersetzung gekommen ist.

Dann ist da natürlich die Qualität des Textes, und zwar nicht nur in Bezug auf die Richtigkeit der Argumente. Erheblich ist auch, in welchem Maße das Werk formal zu beeindrucken weiß. Aber es braucht Bildung und Talent, um formale Qualitäten herzustellen, um geistreich zu formulieren und Ausführungen mit der Strahlkraft auszustatten, die so viele klassische Texte auszeichnet, und die möglicherweise notwendig ist, um ernst genommen zu werden. In welchem vielbeachteten Buch wird nicht schon im Vorwort klar, dass der Autor selbst eine beträchtliche Zahl an Büchern gelesen hat?

Auch hängt der Weg zur allgemeinen Bekanntheit davon ab, über welches "Startkapital" an Aufmerksamkeit der Autor verfügt. Ein völlig Unbekannter hat es schwer, Beachtung zu finden. Es ist kein Zufall, dass Diverse unter den historischen Personen, die wir für eine große Idee verehren, schon vor dieser Idee aus anderen Gründen über ein gewisses Renommee verfügten. Dieses hat das Verbreiten der Idee begünstigt oder vielleicht überhaupt erst ermöglicht.

Weiterhin ist es häufig notwendig, die Idee zusätzlich zu bewerben, und das ist mit vielen historischen Ideen auch intensiv geschehen, etwa im Rahmen von Vortragsreisen oder Briefwechseln. Die Wirkung solcher Werbemaßnahmen hängt natürlich von Energie und Talent des Autors ab. Sollte er als Person auftreten, dann kommen zusätzliche Faktoren ins Spiel. Es ist dann plötzlich wichtig, dass er überzeugend spricht und in der spontanen Diskussion eine gute Figur abgibt. Dahinter stehen wieder Voraussetzungen, zum Beispiel wird es für einen Menschen mit einem schlechten oder auch nur mittelmäßig guten Gedächtnis schwierig sein, sich im Gespräch als geistiges Schwergewicht zu präsentieren.

Als Quintessenz lässt sich festhalten: Der Weg von der theoretischen Idee zur allgemeinen Bekanntheit ist mit Hürden gespickt, und an den meisten davon ist das Scheitern die Regel, nicht die Ausnahme.

Wären diese Hürden mathematisch voneinander unabhängig, dann würde sich ihre Wirkung multiplizieren. Um das kurz an einem Zahlenbeispiel zu verdeutlichen: Wenn fünf unabhängige Filter mit einer Durchlässigkeit von jeweils 5% hintereinander liegen, dann gelangt nur einer aus 3 Millionen Kandidaten hinter den letzten. Völlige Unabhängigkeit ist bei den genannten Hürden natürlich nicht gegeben, zum Beispiel wird es wohl eine gewisse Korrelation geben zwischen der Fähigkeit, überzeugend zu schreiben, und der Fähigkeit, überzeugend zu reden. Aber selbst, wenn man eine mittelstarke Abhängigkeit annimmt, entsteht aus dieser Kaskade von Hürden ein Parcours, an dem die allermeisten Kandidaten früher oder später scheitern - überwiegend früher. Die Idee allein führt mitnichten zu allgemeiner Bekanntheit. Vielmehr braucht es dafür das Zusammentreffen diverser unwahrscheinlicher Umstände.

Aber das bedeutet, dass die Wenigsten unter denen, die eine Idee als Erste hatten, damit auch bekannt wurden. In fast allen Fällen stand dem irgendetwas im Wege. Der, der die Idee hatte, war zu faul oder hatte zu wenig Zeit. Er war zu unsicher über den Wert seiner Idee. Seine Bildung oder sein sprachliches Talent reichten nicht aus für einen ansprechenden Text. Er war Georgier und schrieb einen glänzenden Text - auf Georgisch. Er war zu bescheiden, um großspurig aufzutreten. Er weigerte sich, einen Gedanken, der sich auf 20 Seiten Text hätte hinreichend erklären und begründen lassen, auf Buchumfang auszuwalzen. Er war zu stolz, um Dinge zu tun, die nicht die Leistung vergrößert hätten, sondern nur die Aussicht auf Bekanntheit. Er war zu schüchtern, um seine Idee effektiv bewerben zu können. Er hatte die falsche Hautfarbe oder das falsche Geschlecht. Er war zu unbekannt, um Aufmerksamkeit zu finden, und sein Werk verstaubt heute vergessen zwischen Millionen anderen in irgendeiner Nationalbibliothek.

Nicht viel anders als in diesem Beispiel, dem Beispiel einer theoretischen Idee, verhält es sich mit anderen Arten von Ideen, zum Beispiel Produkt- und Projektideen. Im Detail sind die Umstände und Leistungen, die zu Bekanntheit führen, dort sicherlich andere, aber die Grundsituation ist am Ende ähnlich: Die meisten Menschen haben sehr ungünstige Voraussetzungen, um gegen den Eifer und den Lärm von Milliarden anderen eine Idee so zu realisieren, dass sie global bekannt wird. Ihnen fehlt die Zeit, die Energie, das Talent, die Aufmerksamkeit, das Renommee, das effektive Netzwerk. Die Idee geht zunächst vielfach unter, bis sie, falls gut, endlich auf die richtigen Bedingungen trifft.

Abgesehen von sehr speziellen Bereichen und vielleicht noch ein paar anderen Sonderfällen ist eine Behauptung der Art, eine bestimmte Person sei die erste mit einer bestimmten Idee gewesen, außerordentlich gewagt. Sprich: sie ist mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch.

Dass die meisten großen und kleinen Berühmtheiten ihre Ideen nicht als Erste hatte, heißt nicht, dass sie keine Wertschätzung verdienen. Auf diese Schlussfolgerung könnte man höchstens verfallen, wenn man in der bloßen Idee den Kern der Leistung sähe. Aber gerade die Tatsache, dass der Weg von der individuellen zur kollektiven Idee so beschwerlich ist, zeigt, wie unsinnig diese Vorstellung ist. Erstens ist mit der Idee allein wenig gewonnen. Zweitens hatten jede bekannte Idee aller Wahrscheinlichkeit nach Hunderte, denn nur mit derartig vielen "Chancen" war es möglich, dass all die Hürden genommen wurden. Der Wert der Idee ist vergleichbar mit dem Wert von Sauerstoff: sie ist notwendig, aber sie ist nicht hinreichend und auch nicht rar. Ganz allgemein ist der Kult um die Idee völlig übertrieben. Die Leistung der Wegbereiter besteht nicht darin, eine Idee gehabt zu haben. Was sie getan haben und was wir würdigen müssen ist: Sie haben eine Idee umgesetzt, sei es als Theorie, als Produkt oder als Projekt, und sie haben ihrem Werk mit viel Verstand und unter Erbringen all der erwähnten Aufwände zu allgemeiner Bekanntheit verholfen.

Ob diese Gegebenheiten nun jedem klar sind oder nicht: Es wäre zu wünschen, dass die Formulierungen sich ihnen annähern. Man weiß in vielen Fällen, wer sich um eine Idee verdient gemacht hat. Aber wer die Idee als Erster hatte, das weiß man nicht, und es ist auch völlig egal.

25.06.2014

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