Fernpunkt

Wissen ist nur ein Wort

Kurz: Der Begriff "Wissen" ist nicht eindeutig. Bei der Diskussion darüber, ob man etwas weiß oder nicht, kann es deshalb zu Missverständnissen kommen; zum Beispiel dazu, gleiche Positionen für verschiedene zu halten.

Ein Pärchen wartet an der Kinokasse. Er spricht feierlich: "Das Kino ist 120 Jahre alt!" Darauf antwortet sie: "Aber das ist doch ein Neubau. Das Kino ist nicht älter als zehn Jahre."

Aus solchen alltäglichen Beispielen wissen wir, dass es Situationen mit folgenden Merkmalen gibt:

  • Zwei Aussagen stehen formal im Widerspruch zueinander.
  • Der Widerspruch besteht aber nur scheinbar, die Aussagen könnten sehr wohl gleichzeitig richtig sein.
  • Ursache des formalen Widerspruchs ist die Verwendung des gleichen Begriffs für verschiedene Dinge. (Hier ist es das Wort "Kino", das zum einen das Konzept meint und zum anderen die konkrete Einrichtung.)

In diesem Fall würde sich das Missverständnis sofort aufklären, denn jede der Parteien kennt die jeweils andere Möglichkeit, das Wort zu interpretieren. Was wäre aber, wenn sich die beiden der verschiedenen Interpretationen gar nicht bewusst wären und fest glaubten, sie würden mit den gleichen Wörtern auch das gleiche meinen? Dann gäbe es keine Einigung. Ohne eine Untersuchung der Begriffe, um die sich der Streit dreht, würden sie nie erkennen, dass die Aussagen zwei verschiedene Fragen betreffen, und dass sie in beiden übereinstimmen.

Um einen Begriff, der leicht zu unbemerkten Missverständnissen führt, geht es hier.

Wir gründen unsere Überlegungen und Entscheidungen auf eine Sammlung von Aussagen, die wir "Wissen" zu nennen pflegen. Aber dieses sogenannte Wissen hat nicht die Eigenschaften, die man ihm naiverweise zurechnet. Es ist nicht sicher. Alles kann jederzeit durch neue Erkenntnisse in den Status eines wahrscheinlichen Irrtums gelangen - das gilt theoretisch selbst für den Energieerhaltungssatz und die historische Existenz des Römischen Reichs. Das empirisch gewonnene "Wissen" ist eine Sammlung von Vermutungen, die nur nach gewissen Kriterien besser sind als andere.

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen:

  1. Man bleibt dabei, Wissen müsse etwas sicheres sein, und kommt damit zur Feststellung, dass es auf den meisten Gebieten kein Wissen gibt. Für die Sammlung von Aussagen, auf die man Überlegungen gründet, muss man dann einen anderen Begriff als "Wissen" finden, denn sie sind nicht sicher.
  2. Man bleibt dabei, Wissen sei die Sammlung von Aussagen, auf die man Überlegungen gründet - so, wie es im Alltagsverständnis ist (und im Übrigen auch in der Erkenntnistheorie). Dazu muss man dem Wissen aber zugestehen, nicht sicher zu sein.

Das Ergebnis sind zwei verschiedene Wissensbegriffe. Wie "Kino" und so viele andere Wörter ist "Wissen" mehrdeutig. Nur gibt es beim Begriff "Wissen" kein allgemeines Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit, weshalb Potenzial für Missverständnisse und Scheinwidersprüche bei allen Überlegungen besteht, die mit Wissen zu tun haben.

Das sei an einem Beispiel demonstriert. Es gibt unter den Menschen, die keiner Religion anhängen, zwei vorherrschende Typen: den starken und den agnostischen Atheisten - umgangssprachlich kurz "Atheist" und "Agnostiker" genannt. Ihre Positionen scheinen unvereinbar zu sein, denn der eine behauptet, etwas über Götter zu wissen (nämlich dass sie nicht existieren), während der andere ein solches Wissen bestreitet. Es stellt sich die Frage, ob dieser formale Widerspruch ein echter ist, oder ob Atheist und Agnostiker nur mit verschiedener Terminologie aneinander vorbei reden.

illustration

M. Surkala | Kmitu

Was also meint der Atheist, wenn er sagt, er "wisse", dass es keinen Gott gibt? Er kann damit sehr wohl meinen, er wisse das sicher, nämlich wenn er die erste Interpretation von Wissen verwendet. (Diese Aussage ist die Position eines Dummkopfs und wird von der Mehrheit der Atheisten hoffentlich nicht vertreten.) Falls aber der Atheist Wissen auf die zweite Art versteht, dann meint er:

Ich gründe meine Überlegungen und Entscheidungen auf die Annahme, ein Gott existiere nicht. Ich kann die Aussage nicht beweisen, aber bei ausreichend klarer Vorstellung von "Gott" ist sie kritisierbar und hat damit die gleiche Qualität wie meine Annahmen über die Nichtexistenz von Geistern, über den Energieerhaltungssatz und über das Römische Reich. Sollten neue Indizien oder Argumente aufkommen, mit denen die Existenz eines Gottes doch wahrscheinlich wird, dann werde ich die Annahme, auf die ich mich stütze, dahingehend ändern.

Wie lautet die Kurzfassung dieser Haltung unter Verwendung des Begriffs "Wissen" in der ersten Interpretation? Sie lautet: "Ich weiß nichts über einen Gott." Es gibt somit eine Untergruppe der Atheisten und eine Untergruppe der Agnostiker, die gegenüber Göttern identische Positionen vertreten und sich nur in ihrer Verwendung des Begriffs "Wissen" unterscheiden.

18.11.2012

Weitere Themen:
Wie Nachrichten die Welt zeichnen
Hoch lebe die kleine Idee
Über das beliebte Gleichsetzen von Korrelation und Kausalität
Die Welt auf dem Konto
Die Untauglichkeit von Glück als Ziel und Erfolgskriterium einer Gemeinschaft
Kann ein Spiegel Bewusstsein aufzeigen?
Vom bewussten Umgang mit begrenzter Intelligenz
Der Baukasten des Unwirklichen
Zwei Wege, aus Fehlern zu lernen
Empfehlungen sind deskriptive Aussagen
Die letzte Unterrichtsstunde
fernpunkt.steffengerlach.de | Kontakt | Impressum