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Zwei Wege, aus Fehlern zu lernen

Kurz: Man kann aus Fehlern auf speziellere oder allgemeinere Art lernen. Die allgemeinere Methode ist schwieriger, nützt aber mehr. Das gilt auch für kollektive Fehler.

Man stelle sich Folgendes vor: Jemand geht in den Supermarkt, um eine Obsttorte zu kaufen. Er findet im Regal eine Schachtel mit einem entsprechenden Bild und kauft den Artikel. Zu Hause stellt er fest, dass die Packung keine Torte enthält, sondern nur Tortenböden. Der Aufdruck bestätigt in großen Buchstaben: "Tortenböden - 3 Stück"; unter dem Bild der Torte steht "Serviervorschlag".

Es gibt zwei Strategien, aus Fehlern zu lernen. Die erste besteht im Ansammeln von speziellem Wissen. Hier könnte das spezielle Wissen darin bestehen, dass es sich bei diesem Produkt nicht um das handelt, was seine Verpackung zeigt. Falls prinzipiell kein Interesse an Tortenböden ohne Belag besteht, dann wird es noch einfacher, denn dann lässt sich das gewonnene Wissen darauf reduzieren, dass das gekaufte Produkt einfach falsch ist. Solange dieses Wissen erhalten bleibt, wird sich der Fehler, dieses Produkt statt einer Torte zu kaufen, nicht wiederholen. Die Strategie funktioniert.

Die Methode erfordert keine geistigen Turnübungen. Insbesondere ist es nicht nötig, sich die Entscheidungssituation korrekt zu vergegenwärtigen. Man kann ungestraft den Fehler begehen, das Wissen, das erst später gewonnen wurde, auch zum Zeitpunkt der Entscheidung schon anzunehmen. Man kann die Entscheidung als offensichtliche Dummheit betrachten, nämlich als den Unsinn, ein bekanntermaßen falsches Produkt zu kaufen. Falls ein anderer darauf hinwiese, das sei nicht ganz richtig, so offensichtlich sei das nicht gewesen, und das Produkt habe doch auf den ersten Blick ganz vielversprechend gewirkt, so könnte man dem, obwohl er recht hat, sogar Vorwürfe machen. Denn er stellt an der falschen Sache eine "gute Seite" heraus und relativiert so ein Stück weit die Erkenntnis - jedenfalls für alle, die in einfachen Kategorien denken.

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Der Nachteil an der ersten Strategie ist, dass sie nur eine relativ kleine Menge potenzieller Fehler verhindert. Der Lerneffekt ist gering. Der Kunde könnte, nachdem er seinen Fehlgriff bemerkt hat, in den Supermarkt zurück kommen - und Tortenböden einer anderen Sorte kaufen. Sein spezielles Wissen über ein einzelnes Produkt hilft ihm nicht, diesen neuen Fehler zu vermeiden.

Die zweite Strategie besteht in der Korrektur einer allgemeinen Herangehensweise. Der Tortenkäufer könnte dazu übergehen, sich zu Beginn zu überlegen, wo er das gesuchte Produkt wohl finden wird, z.B. ob es gekühlt werden muss. Oder er könnte einfach lesen, was auf der Verpackung steht, statt sich auf Bilder zu verlassen. So würde er mit einiger Wahrscheinlichkeit auch beim Einkaufen anderer Dinge Fehler vermeiden. Der Lerneffekt ist groß.

Im Gegensatz zur ersten Strategie ist es hier wichtig, die Entscheidungssituation gedanklich exakt zu reproduzieren. Vor allem darf dem zu dieser Zeit verfügbaren Wissen nicht die spätere Erfahrung vom unerfreulichen Ausgang der Geschichte zugerechnet werden. Andernfalls ist man mit der Überlegung schnell fertig, und die korrigierte Herangehensweise ist ein völlig nutzloses "Tu nicht das bekanntermaßen Falsche". Die Frage muss lauten: Auf welche Weise hätte man den Fehler erkennen können ohne das Wissen, das erst später zur Verfügung stand?

Die beiden Strategien sind sowohl bei individuellen Fehlern anwendbar als auch bei kollektiven. Bei den kollektiven erscheint es besonders wichtig, möglichst viel daraus zu lernen und darum die leistungsfähigste Strategie zu wählen.

Die Frage ist: Tun wir das?

Ich bin so stillos, das extreme Beispiel herzunehmen. Mit der Zeit des Nationalsozialismus darf erzählerisch und argumentativ nur in einer bestimmten Weise umgegangen werden. Es gibt geschriebene und ungeschriebene Regeln, und sie alle atmen den Geist der ersten Strategie. Es geht darum, mit der schlichtesten Art von Lernen die schlichteste Art von Wiederholung zu vermeiden. Hitler darf kein Mensch gewesen sein, sondern nur das fürchterlichste Monster, das der Planet je gesehen hat, und das muss auch offensichtlich gewesen sein für jeden intelligenten Menschen. Den Mitgliedern der NSDAP und der anderen Nazi-Organisationen muss, wenn sie nicht gerade geisteskrank waren, von Beginn an klar gewesen sein, dass sie sich fern jeder Moral bewegten. Historische Dokumente, z.B. Filme, werden nur verbreitet in Begleitung massiver kritischer Kommentare. Es gibt kaum eine Information, in der nicht aufdringlich das schlimme Ende vorweggenommen wird.

Ganz bestimmt wird so das spezielle Wissen von der Schädlichkeit der Nazi-Ideologie perfekt bewahrt. Aber wie steht es um den Versuch, allgemeinere Lehren zu ziehen? Die gedankliche Rekonstruktion der ursprünglichen Entscheidungssituation, wie sie für die zweite Strategie notwendig ist, wäre auch ohne das emsige Verbrämen schon schwierig genug. Wie sähe wohl eine im Wind flatternde Hakenkreuzfahne aus, wenn man nicht von klein auf gelernt hätte, dass es sich um das Zeichen des Bösen handelt? Wenn man in einer schweren Zeit vielleicht sogar gewisse Hoffnungen mit der Symbolik verbände? Durch die groben Methoden der ersten Strategie wird die Rekonstruktion zusätzlich behindert. Das wahrscheinliche Ergebnis ist eine Grundhaltung, die den Fehler eher begünstigt als verhindert hätte. Es entsteht die Vorstellung, dass nicht viel nachgedacht und diskutiert werden müsse, weil es von vornherein keinen Zweifel hinsichtlich der alles entscheidenden Frage gibt: nämlich der, auf welche Seite man sich stellen soll.

27.11.2012

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