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Kann ein Spiegel Bewusstsein aufzeigen?

Kurz: Dem Spiegel wohnt eine spezielle Magie inne, die ihn geeignet erscheinen lässt, die Existenz von Selbstbewusstsein zu testen. Aber solche Tests prüfen nichts anderes als Intelligenz, sie könnten auch von einer Maschine mit leistungsfähiger Informationsverarbeitung bestanden werden.

Um das Verhältnis von Selbstbewusstsein und Spiegel zu verstehen und insbesondere die Gedanken zu entwirren, die beides zu verbinden scheinen, muss man sich zunächst mit einer dritten Sache befassen, die nur wenig mit dem Selbstbewusstsein zu tun hat, dafür aber sehr viel mit dem Spiegel. Die Rede ist vom menschlichen Gesicht.

Das Gesicht ist unser wichtigstes Erkennungsmerkmal und hat eine zentrale Funktion in unserer Innenwelt aus Gedanken, Gefühlen und Intuitionen. Es gibt dazu sehr aufschlussreiche Konstrukte im Denken und Sprechen des Alltags. Wenn wir zum Beispiel Peter bisher nur per Schriftwechsel kennengelernt haben und dann zum ersten Mal sein Gesicht sehen, dann denken wir: "Aha, das ist also Peter". Wir empfinden die Verbindung zwischen einer Person und ihrem Gesicht demnach als so eng, dass wir Person und Gesicht manchmal sogar gleichsetzen. Auch wenn wir unser eigenes Gesicht im Spiegel sehen, denken wir "Das bin ich" - eine Aussage, die sehr elementar und bedeutsam erscheint. Da wir dieses "Das bin ich"-Erlebnis auf kaum eine andere Art haben können als unter Benutzung eines Spiegels, betrachten wir den Spiegel als so etwas wie ein "Ich-Gerät". Damit erscheint er am Ende auch als das perfekte Utensil, um zu prüfen, ob ein Wesen über ein "Ich" verfügt.

Ein Produkt dieser Vorstellung ist der sogenannte Rouge-Test. Dabei wird der Prüfling mit einem Fleck auf der Stirn versehen und anschließend vor einen Spiegel gesetzt. Entdeckt er den Fleck im Spiegel und entfernt ihn daraufhin von seinem realen Körper, dann geht man davon aus, dass er über ein "Ich" verfügt. Der Test wird nur von sehr wenigen Arten bestanden, neben Menschen zum Beispiel von Schimpansen.

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Lanych

Die einzige Grundlage dafür, eine besondere Verbindung zwischen "Ich" und Spiegel anzunehmen, besteht in dem irreführend verknappten Gedanken "Das bin ich" beim Anblick des eigenen Gesichts. Das Gesicht ist der heimliche Dreh- und Angelpunkt. Ginge es nicht um das Gesicht, dann brauchte man keinen Spiegel für ein "Das bin ich", denn der größte Teil des eigenen Körpers ist auch ohne Spiegel sichtbar. Wenn aber die gedankliche Verbindung vom Spiegel zum Selbstbewusstsein nur über das Gesicht verläuft, dann ist sie Unsinn, denn das Gesicht ist nur ein Erkennungsmerkmal und hat mit Selbstbewusstsein nicht mehr zu tun als irgendein anderes Körperteil.

Die Herausforderung, die der Spiegel mit sich bringt, und die als Grundlage für Prüfungen benutzt werden kann, hat mit Selbstbewusstsein nichts zu tun. Wie identifiziert man das eigene Spiegelbild als solches? Man kann sich selbst im Spiegel nicht einfach "erkennen" so wie man Mitmenschen erkennt, etwa am Gesicht - das eigene Gesicht kennt man ja überhaupt erst durch den Spiegel. Nein, vor der Erkenntnis, dass der Körper im Spiegel derselbe ist wie der vor dem Spiegel, steht die Erkenntnis über die Funktionsweise des Spiegels. Es muss verstanden werden, dass die Welt im Spiegel kein Teil der Realität ist, sondern eine Abbildung davon, ein irreales Duplikat. Diese Fähigkeit ist sicher selten, aber sie ist wohl kaum das, was Selbstbewusstsein ausmacht.

Zweifel am Rouge-Test kommen schon auf, wenn man ihn gedanklich variiert, und speziell dann, wenn man die Zauberzutat Gesicht entfallen lässt. Man könnte den Test auch durchführen, indem man den Fleck auf dem Rücken platziert. Auch dann könnte er nur im Spiegel bemerkt werden. Wäre das Entfernen des Flecks dann immer noch ein Beweis für Selbstbewusstsein? Falls nicht: Was unterscheidet die Körperteile und hat mit Selbstbewusstsein zu tun? Was außer dem naiven "Das bin ich" beim Erblicken des eigenen Gesichts? Falls doch: Was unterscheidet den Test dann von einem, bei dem der Fleck auf dem Bauch ist, wo er auch ohne Spiegel gesehen werden kann? Was außer dem höheren Anspruch an die Intelligenz des Probanden?

Der Spiegel leistet nicht mehr, als Dinge aus einer anderen Perspektive zu zeigen. Damit werden Bereiche sichtbar, die dem Auge sonst verborgen sind, und somit auch Besonderheiten in diesen Bereichen. Ein Test mit solchen Besonderheiten und einem Spiegel lässt sich immer so modifizieren, dass die Besonderheiten auch ohne Spiegel sichtbar sind. Ein Proband, der diesen vereinfachten Test besteht und intelligent genug ist, eine Spiegelung richtig zu interpretieren, besteht auch den kompletten Test mit Spiegel. Deshalb ist jeder vermeintliche Bewusstseinstest dieser Art entweder auch ohne den Spiegel schon einer oder ein reiner Intelligenztest - wobei praktisch das Zweite anzunehmen ist, denn das Erste fiele wohl schnell auf. Der Spiegel kann einer Prüfung nur die Aufgabe hinzufügen, den Spiegel zu verstehen.

Wenn also der Rouge-Test nicht mehr prüft als Intelligenz, dann sollte eine ausreichend leistungsfähige Informationsverarbeitung beliebiger Art, selbst eine Software, in der Lage sein, einen Test dieser Art zu bestehen. Und so ist es. Man stelle sich vor, irgendwann in der Zukunft sei einer hochentwickelten computergesteuerten Maschine die Aufgabe gegeben, eine bestimmte Tätigkeit zu verrichten. Die Situation sei die, dass sie dafür zunächst unter anderen Maschinen ausgewählt werden muss; die Auswahl erfolge nach Augenschein. Angenommen zweitens, die Maschine habe einen Ölfleck, der den Eindruck ihrer Tauglichkeit vermindert. Um die Chance zu maximieren, ihre Aufgabe zu erfüllen, muss die Maschine diesen Fleck beseitigen. Wenn sich nun der Ölfleck an einer Stelle befindet, die sich nicht im Bereich der Sensoren der Maschine befindet, so dass sie ihn nur indirekt als Reflexion in einem Spiegel wahrnehmen kann, dann genügt Intelligenz, um die Situation zu erkennen und den Fleck trotzdem zu entfernen. Voilà: Eine Maschine, die sich im Spiegel hübsch macht.

Das Szenario mag reichlich konstruiert erscheinen, aber bei Lichte besehen ist es nicht sehr verschieden von der Situation, in welcher sich der Schimpanse den Fleck von der Stirn wischt. Denn warum tut er das? Vermutlich zielt er auf einen sauberen und gesunden Eindruck gegenüber seinen Artgenossen ab, was seiner sozialen Stellung in der Gruppe zuträglich ist und damit dem Erfüllen seiner großen Aufgabe, der Fortpflanzung.

Gemessen an seinen Aussagen, legt der Rouge-Test die Latte eigentlich sehr hoch. Er spricht den meisten Kreaturen mit all ihren Bestrebungen, Freuden und Nöten ein Selbstbewusstsein schon ab. Wenn selbst ein solch strenger Test doch nicht mehr aufzeigen kann als schnöde Intelligenz, dann stellt sich die Frage, ob nicht Intelligenz genügt, um auch jeden anderen denkbaren Bewusstseinstest zu bestehen. Und falls man das annimmt, schließt sich gleich die nächste Frage an, nämlich ob es so etwas wie ein elementares Selbstbewusstsein, das Intelligenz noch etwas hinzufügt, überhaupt gibt.

13.07.2012 (überarbeitet 17.03.2013)

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