Fernpunkt

Die letzte Unterrichtsstunde

Kurz: Die Schule funktioniert in mancher Hinsicht anders als die Welt außerhalb und hinterlässt deshalb diverse Flausen.

Lieber Abgänger. Du hast viele Jahre mit mir verbracht. Diese Zeit, deine frühe Jugend, war eine prägende Lebensphase. Du hast nicht nur Stoff gelernt, Hausaufgaben erledigt und Klassenarbeiten geschrieben, sondern parallel auch an einem viel größeren Projekt gearbeitet: die Welt zu verstehen. Du hast die Vorgänge um dich herum beobachtet, du hast Muster und Gesetzmäßigkeiten erkannt und aus ihnen deine fundamentalen Anschauungen aufgebaut - ganz überwiegend unterbewusst. Ich fühle mich verpflichtet, dazu eine letzte Belehrung anzubringen, denn einiges von dem, was du auf diese Art gelernt hast, ist leider Unsinn. Ich bin ein besonderer Kosmos, der eigenen Regeln folgt. Es ist nicht alles typisch für das Leben, was typisch ist für mich, die Schule.

Ich habe eine kleine Liste meiner Eigenarten aufgestellt - Umstände, die dir vermutlich wie Naturgesetze vorkamen, die aber in Wahrheit nur "Schulgesetze" sind und außerhalb der Welt der Ausbildung nicht gelten. Ich erwarte nicht, dass ein paar eindringliche, aber letztendlich doch knappe Worte den Schaden korrigieren werden, den ich mit der jahrelangen Suggestion falscher Zusammenhänge und Gegebenheiten angerichtet habe. Ich hoffe aber, dass meine Hinweise den natürlichen Prozess der Korrektur etwas zu beschleunigen helfen.

Schulgesetz Nr. 1: Die Vergleichbarkeit der Leistungen. Die Aufgaben, die im Unterricht gestellt werden, sind in der Regel für alle Schüler gleich, aber sie werden natürlich verschieden gut gelöst. Der eine Schüler glänzt, der andere zeigt Schwächen, der dritte scheitert völlig. Jede neue Aufgabe hinterlässt wieder Gewinner und Verlierer, und nachdem das einige Male passiert ist, wissen alle, wer im Allgemeinen zu welcher Gruppe gehört. Die schlechteren Schüler mögen unter dem Vergleich leiden oder ihn innerlich für unwichtig erklären, aber die besseren können aus ihm Stolz und Selbstbewusstsein beziehen.

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R. A. Hillman | Krishnakumar161

Dies ist ein Schulphänomen. Wenn du in der Zukunft nicht gerade als Spargelstecher oder Sportschuh-Näher deine Brötchen verdienst, dann wird deine Leistung mit der deiner Kollegen nicht mehr ohne Weiteres vergleichbar sein. Im hochqualifizierten Bereich müssen Aufgaben typischerweise nur einmal gelöst werden, weshalb jeder mit anderen Aufgaben betraut ist. Jeder Entwickler stellt eine andere Funktion her, jeder Arzt behandelt andere Patienten, jeder Schauspieler spielt eine andere Rolle. Wenn einer seine Aufgabe gut löst, dann mag das einfach daran liegen, dass sie leicht war. Aber vielleicht war sie auch gar nicht so leicht, nur er hat gute Arbeit geleistet. Je effizienter eine Aufgabe gelöst wird, umso stärker ist für andere der Eindruck, sie sei leicht gewesen. Wenn umgekehrt einer mit seiner Aufgabe schlecht zurecht kommt, dann ist vorstellbar, dass er eine schwache Leistung erbringt. Ebensogut kann die Aufgabe aber sehr schwierig sein, vielleicht auf eine Art, die nicht offensichtlich ist. Nicht zu vergessen: Viele Aufgaben werden gemeinsam gelöst, dann sind von vornherein alle Beteiligten gleich erfolgreich oder erfolglos.

Ich weiß, ich habe die Vorstellung entstehen lassen, es sei üblicherweise klar, wer mehr und wer weniger leistet, und ein Mensch könne deshalb sein Selbstwertgefühl daraus beziehen, in seiner Lieblingsdisziplin objektiv und offensichtlich besser zu sein als die meisten anderen. Ich habe dich in die Irre geführt und entschuldige mich dafür.

Schulgesetz Nr. 2: Die Schlüsselfunktion des logischen Denkens. Die Schule vermittelt Wissen und prüft dieses Wissen anschließend, indem sie Aufgaben stellt. Das Wissen und die Aufgaben sind für alle Schüler gleich. Wenn eine Aufgabe von einigen gelöst wird und von einigen anderen trotz größten Bemühens nicht, dann liegt das nicht an einem verschiedenen Kenntnisstand, sondern daran, dass manche eben mit dem Wissen, das sie haben, besser umgehen können als andere. Sie haben die richtigen Ideen und beherrschen die Logik. In der Schule ist es eine normale und häufige Situation, dass logische Intelligenz den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern macht.

Wer dagegen ein Wissen hat, das über den Unterrichtsstoff hinaus geht, der gewinnt dadurch nichts, denn solches Wissen wird nicht geprüft. Im Gegenteil: Er begibt sich geradezu in Gefahr. Er kann dieses Wissen nur haben, weil er sich in seiner Freizeit zusätzlichen Stoff reingezogen hat und setzt sich damit dem Verdacht aus, nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Kein anderes Verhältnis steht in der Schule so auf dem Kopf wie das zwischen Denken und Wissen.

In der realen Welt ist das logische Denken zwar unentbehrlich und tausendfach nützlich, aber es ist in der Regel nicht die kritische Komponente. Kritisch ist Wissen. Wenn du das nicht glaubst, sieh dir ein paar Stellenanzeigen an und achte darauf, nach welchen Qualitäten gesucht wird. Oder frag einen Bekannten, der sich nach einigen Jahren Berufstätigkeit bei einer neuen Firma vorgestellt hat, ob eher seine Fachkenntnisse geprüft wurden oder seine Fähigkeiten, knifflige Tüftelaufgaben zu lösen. Wer immer ein Team zusammenstellt, um eine Herausforderung anzugehen, interessiert sich zuerst für Expertenwissen, nicht für IQ.

Offenbar lässt sich davon ausgehen, dass logische Intelligenz in einer Gruppe von gebildeten Menschen ausreichend vorhanden ist für den gemeinsamen Erfolg. Die Hauptschwierigkeiten von Projekten liegen nicht in logischen Rätseln. Selbst wenn im Rahmen eines Projekts eine Aufgabe auftritt, die auf der ganzen Welt nur drei Leute lösen können, sind höchstwahrscheinlich Kenntnisse der Knackpunkt, d.h die Unfähigkeit der übrigen Milliarden liegt eher in mangelndem Know-How begründet als in mangelndem Grips. Relevante Leistungen entstehen aus dem Zusammenführen einer meistens naheliegenden Grundidee mit hochentwickelten Werkzeugen, Fachkenntnis, systematischen Experimenten und einer Menge handwerklichem Aufwand. Das letzte Quäntchen logische Intelligenz schadet dabei nicht, ist aber auch nicht zwingend erforderlich. Das alles gilt auch für Projekte, deren Ergebnisse von der Öffentlichkeit für "genial" befunden werden.

Ich weiß, ich habe dich daran gewöhnt, dass alle das gleiche Wissen haben, und dass deshalb nicht das Wissen den Unterschied macht, sondern die Fähigkeit zum klaren Denken. Ich habe dich in die Irre geführt und entschuldige mich dafür.

Schulgesetz Nr. 3: Die einfache Hierarchie der Aufgaben. Die Aufgaben der Schule haben die typischen Eigenarten simulierter Probleme. Sie sind auf den Kern reduziert und mit den erlernten Mitteln lösbar. Außerdem sind sie frei von natürlichen Begleitumständen wie z.B. einer echten Wichtigkeit. Von der Lösung hängt nicht mehr ab als die eigene Note. Der einzige große Unterschied zwischen den Aufgaben besteht in ihrer verschiedenen Schwierigkeit, was eine wunderbar geordnete, eindimensionale Hierarchie ergibt. Je schwerer die Aufgabe, umso intensiver muss sie besprochen werden, und umso weniger Schüler lösen sie. Schwere Aufgaben sind groß, einfache sind klein.

Aber die Ordnung der Aufgaben ist ein Schulgesetz. Verabschiede dich davon und sei gefasst auf das Chaos. Es beginnt damit, dass es eine echte Wichtigkeit gibt, die herzlich wenig mit Schwierigkeit zu tun hat. Als schwierigste Aufgabe in einem Projekt erweist sich vielleicht eine marginale Verbesserung, die am Ende kaum einer bemerkt. Ein großer Durchbruch andererseits erfordert vielleicht nicht mehr als unermüdliches Experimentieren oder das Anschaffen des neuesten und teuersten Equipments. Die Pflege eines alten technischen Systems kann schwieriger sein als der Aufbau eines neuen, obwohl letzteres natürlich viel innovativer ist. Die beeindruckendsten Projekte sind nicht die schwierigsten, die schwierigsten sind nicht die wichtigsten, und der Charakter eines Projekts kann für den, der daran arbeitet, ganz anders erscheinen als für den, der nur davon hört. Komplexität erweist sich vielleicht nicht als Quelle von Herausforderung, sondern nur als Quelle von quälender Ineffizienz. Das spannendste Projekt bietet den meisten Mitarbeiten vielleicht nur langweilige Aufgaben. Die größte Herausforderung andererseits findest du vielleicht in einem Rahmen, der als Projekt ganz langweilig und unbedeutend ist. Auch die Beachtung führt ein Eigenleben. Das Lösen einer mittelschweren Aufgabe kann große Anerkennung nach sich ziehen, das Lösen einer sehr schwierigen gar keine.

Ich weiß, ich habe den Eindruck vermittelt, man könne sich an einer einfachen Hierarchie von "großen" und "kleinen" Aufgaben orientieren. Ich habe dich in die Irre geführt und entschuldige mich dafür.

Schulgesetz Nr. 4: Der leichte Sieg der Wahrheit. Der Lehrer hat im Unterricht eine Doppelfunktion. Er ist nicht nur die wichtigste Quelle des Wissens, sondern gleichzeitig auch ein Richter, der richtige und falsche Lösungen sicher unterscheiden kann und darin von allen akzeptiert wird. Zum Beispiel ist vorstellbar, dass zu einer schwierigen Matheaufgabe in der Klasse verschiedene Lösungen entwickelt werden, die einander widersprechen und deshalb zwangsläufig alle bis auf eine falsch sind. In der Schule klärt sich eine solche Situation schnell auf, der Lehrer bestätigt die richtige Lösung. Damit sind die Differenzen behoben, alle Irrtümer aus der Welt geschafft. Dass dies eintritt, ist sicher - es hängt nicht davon ab, welcher Schüler derjenige ist, der richtig lag.

Nun denkt dir aus diesem Szenario den Lehrer weg - wie würde es dann ausgehen? Angenommen, der Schüler mit der richtigen Lösung - nennen wir ihn Susi - ist eher schüchtern, während ein anderer, sehr selbstsicherer Schüler - nennen wir ihn Tom - von einer falschen Lösung überzeugt ist. Tom kann gut mit Worten umgehen, ist in einigen anderen Fächern bekanntermaßen besser als Susi und hat viele Freunde, die seinen Ansichten vertrauen. Die Chancen, dass sich hier die richtige Lösung in der Klasse durchsetzt, sind gering, und sie verschwinden endgültig, wenn die Aufgabe so schwierig ist, dass die meisten Mitschüler einschließlich des wortgewandten Tom gar nicht verstehen, warum Susis Lösung richtig und Toms Lösung falsch ist.

Genau diese Konstellation bestimmt aber die Realität außerhalb der Schule: Einen allwissenden Lehrer gibt es nicht. Welche Antwort sich durchsetzt, hängt von Talent und Verhalten der Personen ab, die die verschiedenen Antworten vertreten. Es kann die falsche Antwort sein. Das gilt besonders für Fragen, zu denen sich Antworten nicht ohne Weiteres objektiv und klar überprüfen lassen. Entscheidend ist nicht, welche Argumente existieren und einem absoluten Richter bekannt sind, sondern welche Argumente von welcher Person in welcher Formulierung vorgebracht werden. Das verhält sich übrigens nicht nur im Kleinen so, im Team und in der Diskussionsrunde, sondern auch im ganz Großen, beim Fortschritt der kollektiven Erkenntnis. Menschen, die sich dort verdient gemacht haben, werden gern recht einseitig als überragend intelligent gefeiert. In Wahrheit waren sie meistens mehrfach Begünstigte und hatten neben ihrem Verstand auch die Position, das Charisma und die Energie, um ihre Ideen (die vielleicht tausend andere auch schon hatten) nachhaltig zu bewerben. Sie waren Susi und Tom in einer Person.

Ich weiß, ich habe suggeriert, es könne einer, der nichts hat außer der richtigen Antwort, eine Frage klären. Ich habe dich in die Irre geführt und entschuldige mich dafür.

Schulgesetz Nr. 5: Der gerade Weg zum Erfolg. Die Aufgaben, die dir als Schüler gestellt wurden, mögen gelegentlich schwierig gewesen sein, aber deine Erfolgsstrategie war immer simpel: Löse möglichst viele dieser Aufgaben und lass es dabei bewenden. Das hat funktioniert, denn der Wert einer Aufgabe für den Erfolg hängt in der Schule gerade davon ab, ob sie gestellt wurde. Aufgaben zu lösen, die gestellt wurden, nützt fast immer - Aufgaben zu lösen, die nicht gestellt wurden, nützt fast nie.

Die Realität ist komplexer. Manche interessant erscheinenden Aufgaben sind gar nicht lösbar. Einige schon funktional nicht, andere ökonomisch nicht, weil die Einnahmen, die sich erzielen lassen, nicht die Ausgaben decken. Im Voraus ist das nicht unbedingt erkennbar. Manche Aufgaben sind mit dem Wissen der Zeit nur lösbar, wenn ein günstiger Zufall die Richtung weist. Außerdem gibt es einen Konkurrenzkampf, so dass selbst eine gut lösbare Aufgabe keinen Erfolg garantiert. Eine Lösung kann ganz passabel sein und doch scheitern, nämlich wenn sie konkurrierenden Lösungen unterlegen ist. Unzählige Aufgaben werden von Unternehmen oder Instituten gestellt, aber in der Regel nicht aller Welt, sondern nur einer Person oder einem Team, d.h. der halbe Erfolg liegt schon darin, überhaupt nach einer Lösung gefragt zu werden. Viel hängt davon ab, wer zufällig von wessen Fähigkeiten weiß.

Wegen solcher Unwägbarkeiten findet sich im Werdegang eines erfolgreichen Menschen häufig etwas, für das in der Schule kaum Platz ist: Glück. Er hat Dinge getan, die auf mehr oder weniger verschlungene Art zu den späteren Erfolgen führten, ohne schon zu wissen, dass sie das tun würden. Er traf durch das, was er tat, auf die richtigen Menschen oder war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er beschäftigte sich aus Neugier mit einer Sache, für die dann plötzlich händeringend Experten gesucht wurden. Er stieß auf eine Herausforderung, von deren Existenz die meisten Zeitgenossen gar nichts wussten, oder stolperte über Beobachtungen, mit denen erst ein Zusammenhang deutlich wurde.

Glück lässt sich nicht erzwingen. Aber es lässt sich begünstigen - ganz so, wie ein Lottospieler seine Chancen auf den Hauptgewinn erhöht, indem er mehr Lose kauft. Deshalb gibt es neben Glück noch eine zweite Sache, die man oft bei erfolgreichen Menschen entdecken kann: sie sind überdurchschnittlich aktiv. Häufig betätigen sie sich auf diversen Gebieten, haben auch Aktivität entfaltet, die nichts mit ihren Erfolgen zu tun zu haben scheint, manchmal sogar offensichtlich erfolglos war. Solche Menschen können nicht als bloße Glückspilze abgetan werden, ihr Erfolgsgeheimnis ist: Sie haben mehr Lose gekauft als andere.

Ich weiß, ich habe dir beigebracht, dass der Weg zum Erfolg effizient und im Voraus erkennbar ist. Ich entschuldige mich dafür.

01.01.2014

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