Fernpunkt

Wie Nachrichten die Welt zeichnen

Kurz: Die Nachrichten drängen sich als wichtigste Quelle von Informationen über die Welt auf, aber um sich ein Urteil über diese zu bilden, sind sie ungeeignet. Denn das Bild, das sie zeichnen, ist nicht nur ins Aufregende verzerrt, sondern auch ins Hässliche.

Hätte ein Marsmensch vor 100 Jahren die Erde besucht und seitdem nur die Schlagzeilen der irdischen Medien verfolgt, er müsste das Schlimmste für die Menschheit befürchten. Ihm bliebe kaum ein Zweifel, dass die Kultur der Menschen in einem Strudel aus Unfällen, Krisen, Naturkatastrophen, Kriegen und Gewalttaten praktisch untergegangen ist. Er würde den Punkt erwarten, an dem alle Gebäude von Erdbeben zerstört sind, alle Flugzeuge abgestürzt, alle Firmen pleite gegangen, die Besten sämtlich von Krankheit und Altersschwäche dahingerafft.

Umso größer wäre seine Verblüffung, käme er nun zurück. Die Welt, die er vor 100 Jahren kennengelernt hätte, ist großflächig verschwunden: die Welt der Plumpsklos und Petroleumfunzeln, wo es nicht für jedes Kind ein eigenes Bett gab, und wo auch nur fünf von sechs Geborenen das Kleinkindalter überstanden, wo die Leute verfaulte Zähne im Mund trugen und mit Mitte 50 starben, wo man im Wesentlichen zu Fuß unterwegs war und sich eine Fahrt mit der Eisenbahn wie eine Weltreise anfühlte. Statt dessen findet man nun gesunde, wohlgenährte Menschen. Sie verfügen über künstliche Diener, die sie transportieren und unterhalten und ihre Wäsche waschen. Sie verbringen nur noch ein Viertel ihrer Zeit mit Arbeit, sie haben vielfältige Möglichkeiten, die übrige Zeit zu gestalten, sie essen jeden Tag etwas anderes, und sie werden uralt.

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Kuzma

Wie in aller Welt, würde sich der Marsmensch fragen, kann diese erfreuliche Entwicklung mit Nachrichten einhergegangen sein, die mehrheitlich unschön bis schrecklich waren? Wie ist es möglich, dass im ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Schlechten in der Realität das eine siegt und in den Schlagzeilen das andere?

Allgemein bewusst ist, dass Nachrichten einen speziellen Charakter haben. Sie sind keine authentische Wiedergabe des zu 99 Prozent eintönigen und überraschungsfreien Weltgeschehens; natürlich sind sie das nicht. Erstens werden von vornherein nur die interessantesten Informationen zu Nachrichten. Diese unterliegen zweitens einer gewissen Deformation. Sprache bietet breite Möglichkeiten, Informationen zum eigenen Vorteil zu gestalten, ohne wirklich zu lügen. Vorteilhaft für den, der Nachrichten verbreitet, ist eine möglichst große Story; die größere Story ist im Allgemeinen die extremere. Deshalb sind viele Nachrichten je nach Seriosität der Plattform mehr oder weniger überzeichnet und zum Spektakel aufgebauscht.

Selektion und Deformation machen Nachrichten also in zumindest einer Hinsicht zu einem Zerrbild der Realität: Sie stellen die Dinge aufregender dar, als sie sind. Aber ist das alles? Ist diese eine, vergleichsweise harmlose Tendenz die einzige? Oder wohnen der alles andere als zufälligen Stichprobe des Weltgeschehens, die man Nachrichten nennt, weitere Tendenzen inne? Letztendlich: Taugen Nachrichten für das, wofür die große Mehrheit sie offenbar verwenden zu können glaubt, nämlich sich ein ausgewogenes Bild von der Welt zu machen?

Man nehme ein Blatt Papier und einen Stift. Man trage eine Anzahl verschiedener Arten von potenziellen Nachrichten zusammen, die in der Nachrichten-Realität freier Medien einen Platz haben. Anschließend markiere man darunter alle Arten von guten Nachrichten mit einem Pluszeichen, und zwar nur die uneingeschränkt erfreulichen, nicht die neutralen und zwiespältigen. Die Arten klar schlechter Nachrichten markiere man mit einem Minus. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird man Folgendes feststellen: Die Pluszeichen sind rar. Zudem sind die so markierten Nachrichten durch ihre Natur eher selten, zum Beispiel Durchbrüche in der medizinischen Forschung. Dominiert wird das Papier von den Minuszeichen, und sie schmücken das ganze vertraute Nachrichten-Ungemach: Naturkatastrophen, Epidemien, Großunfälle, Firmenpleiten, Terroranschläge, Verbrechen, natürliche Tode bekannter Personen.

Die heimliche Vorstellung, alle potenziellen guten und schlechten Nachrichten bildeten Pärchen, und es sei nur der Schlechtigkeit der Welt geschuldet, wenn aus den Medien überwiegend die unerfreulichen dringen, ist Unsinn. Die gute Nachricht ist, im Gegensatz zur schlechten, per se etwas seltenes.

Die Ursache liegt in der Natur der Nachricht. Nachrichten sind Neuigkeiten. In manchen Sprachen gibt es von vornherein nur ein Wort für beides, etwa beim englischen "news". Nur was neu ist, kann Nachricht sein. Oft aber ist das Gute eben nicht hinreichend neu. Die Vorgänge, die unser Leben verbessern, und die deshalb Anlass zur Freude wären, haben ganz überwiegend eins gemeinsam: Sie verlaufen langsam. Es handelt sich nicht um zufällige Ereignisse, sondern um die Früchte menschlicher Arbeit. Sie resultieren aus hohen Aufwänden, die über einen längeren Zeitraum hinweg erbracht werden und einen allmählichen Fortschritt bewirken.

Oft sind diese Vorgänge geplant, zum Beispiel wenn ein Bauwerk entsteht. Die einzige wirkliche Nachricht in einem solchen Prozess ist die Entscheidung, den Plan umzusetzen. Diese Nachricht muss nicht einmal jedem als gute erscheinen, denn oft gab es zur Entscheidung Alternativen, die durchaus auch Vorzüge hatten. Was nach der Entscheidung folgt, ist erstens mühsam. An keinem Tag rechtfertigt der geringe Fortschritt des Projekts eine weitere Nachricht. Zweitens ist es vorhersehbar, denn der Plan ist bekannt. Selbst der erfolgreiche Abschluss ist keine wirkliche Neuigkeit und hat allenfalls bei ungewöhnlichen Projekten einen gewissen Aufregungswert.

Andere begrüßenswerte Entwicklungen unterliegen keinem Masterplan, sind aber dennoch das Ergebnis beträchtlicher Aufwände und entsprechend langwierig. Das Automobil ist im Laufe von Generationen von einem Spielzeug für Reiche zum Garant für allgemeine individuelle Mobilität geworden. In den Nachrichten erscheinen davon nur die Probleme, die es nach sich zieht. Die erfreuliche Tatsache selbst ist, ungeachtet ihrer Dramatik, zu keinem Zeitpunkt eine Nachricht.

Das Gute ist alltäglich. Es ist zu langsam, zu berechenbar, um Nachricht zu sein. Was überraschend eintritt, von heute auf morgen, was für Aufregung und Spektakel sorgt, ist selten gut. Das Schlechte ist in den Eigenarten überlegen, die für eine Nachricht wichtig sind, darin liegt seine Dominanz bei den Nachrichten begründet. Das Ärgerliche wird zur Nachricht, das Erfreuliche nicht.

Die Tendenz der Nachrichten wirkt weit über die Nachrichten hinaus. Jeder Mensch bildet sich ein Urteil über die Gesellschaft, in der er lebt. Je ungünstiger dieses ausfällt, umso schwerer ist es für ihn, sich seines eigenen Lebens zu erfreuen, wie angenehm dieses, für sich genommen, auch ist. Wenn sich nun die Einschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorwiegend auf Informationen stützt, die die Situation ins Unerfreuliche verzerren, dann ist der Mensch nicht nur falsch informiert, er ist auch in seiner Lebensqualität beeinträchtigt. Ein großer Teil der Unzufriedenheit in der mit freien Medien gesegneten Welt resultiert nicht aus persönlichen Nöten, sondern ist ein Produkt der Nachrichten. Diese Unzufriedenheit ist nicht sachlich falsch, denn die Ärgernisse bestehen ja tatsächlich. Wohl aber ist sie in ihrer Schwere unangemessen.

All das gilt natürlich nur für die Art von Nachrichten, wie freie Medien sie hervorbringen. Gesteigerte allgemeine Unzufriedenheit ist sozusagen der Preis für diese Art von Freiheit. Das sollte man nicht vergessen, zum Beispiel beim Vergleich des Lebensgefühls mit totalitären Systemen. Dort werden die Probleme bekanntlich nicht übertrieben, sondern, ganz im Gegenteil, verschwiegen. Damit ist auch die Wirkung die gegenteilige: eine unangemessene Zufriedenheit. Menschen, die beide Arten von Gesellschaftssystemen erlebt haben, ziehen gern den Vergleich und unterschätzen dabei die Bedeutung der Nachrichten für die Lebensqualität oder sind sich der Tendenz freier Nachrichten nicht bewusst. So ergibt insbesondere der Vergleich des Lebensgefühls in der alten DDR mit dem im wiedervereinten Deutschland keinen großen Sinn, denn es ist der Vergleich des einstigen "Mir geht es gut." mit dem heutigen "Mir geht es gut. Aber meine Gesellschaft ist dabei, in einem Strudel aus Unfällen, Krisen, Naturkatastrophen, Kriegen und Gewalttaten unterzugehen!"

Was könnte sich ändern? Können Nachrichten etwas anderes sein als Neuigkeiten? Schwerlich. Was neu und interessant ist, wird mit freien Medien immer seinen Weg in die Öffentlichkeit finden. Was umgekehrt nicht ausreichend neu ist, mag gelegentlich interessant sein, aber es würde wohl zwischen echten Neuigkeiten immer deplatziert wirken. Nachrichten werden im Wesentlichen das bleiben, was sie sind, und damit bleiben auch ihre Tendenzen erhalten. Die Chance zur Veränderung liegt eher in der Interpretation der Veranstaltung. Mit dem Bewusstsein des natürlichen Übergewichts schlechter Nachrichten erscheinen die Dinge in einem anderen Licht. Ja, Nachrichten über die Welt sind oft schlecht, aber das liegt nicht am Charakter der Welt, sondern am Charakter der Nachricht. Wer sich tatsächlich für den Charakter der Welt interessiert, der ist bei den Nachrichten falsch. Er muss sich mit weniger aufregenden Quellen anfreunden, bis hin zum statistischen Jahrbuch. Die sinnvolle Deutung der Nachrichten ist nicht das suggerierte "Das Wichtigste aus aller Welt", sondern etwas in der Art von "Lustiges und Schauerliches vom Tage, mit Schwerpunkt auf Letzterem".

08.01.2012

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