Fernpunkt

Der Baukasten des Unwirklichen

Kurz: Es gibt verschiedene Arten und Stufen der Abweichung von der Realität. Sie haben jeweils andere Konsequenzen und können gemeinsam oder getrennt auftreten. Die Formulierung, etwas sei "nicht real", ist deshalb unpräzise und kann zu falschen Schlüssen führen.
illustration

Rolffimages

Wenn wir über etwas Nicht-Reales nachdenken oder diskutieren, dann bringen wir intuitiv die Erfahrung ein, die wir mit Nicht-Realitäten gesammelt haben. Diese Erfahrung ist dominiert vom Traum. Er ist die mit Abstand älteste und vertrauteste Form von Nicht-Realität. Wir nehmen an, das eine, das den Traum von der Wirklichkeit unterscheidet, sei ganz allgemein der Unterschied zwischen Nicht-Realität und Realität.

Diese Vorstellung führt in die Irre, sobald man es mit einer anderen Nicht-Realität als einem Traum zu tun bekommt, denn der Traum unterscheidet sich von der Wirklichkeit nicht in einer einzelnen Hinsicht, sondern in mehreren:

  • Der Traum ist keine "vollständige" Welt. Er erfordert außerhalb der Traumwelt einen Träumer, dessen Existenz aus der Traumwelt heraus nicht aufrechterhalten werden kann.
  • Der Traum kennt keine echten Gesetzmäßigkeiten. Im Prinzip kann alles passieren.
  • Die Lebensdauer von Zuständen innerhalb eines Traums ist kurz. Spätestens mit dem Ende des Traums gehen die Zustände verloren; der nächste Traum knüpft nicht daran an.
  • Der Traum ist nicht interaktiv. Beobachtete Objekte, die dem Träumer selbst ähnlich zu sein scheinen, sind in Wahrheit etwas grundverschiedenes, nämlich Produkte seiner Fantasie. Der Träumer ist der einzige Akteur seiner Art.

Diese Umstände sind im Paket Traum gebündelt, aber allgemein sind sie unabhängig voneinander. Eine Situation kann einige davon aufweisen und andere nicht. Beispiele finden sich im Bereich der Computerspiele:

  • keine Vollständigkeit aber Gesetzmäßigkeit: Computerspiele allgemein
  • keine Vollständigkeit aber lange Lebensdauer: Abspeichern von Spielständen
  • keine Vollständigkeit aber Interaktivität: Multiplayer-Spiele

Jeder der Umstände hat seine eigenen Konsequenzen:

  • An der Frage der Vollständigkeit entscheidet sich, ob eine "Rückkehr" aus der Nicht-Realität notwendig ist.
  • An der Frage der Gesetzmäßigkeit hängt die Sinnhaftigkeit des Denkens innerhalb der Nicht-Realität.
  • Die Lebensdauer der Zustände hat Einfluss auf das Aufwand-Nutzen-Verhältnis möglicher Handlungen.
  • An der Frage der Interaktivität entscheidet sich die Existenz einer Ethik.

Wann sollte man nun davon sprechen, etwas sei "nicht real"? Frei heraus: am besten nie. Das wolkige Geschwätz vom Nicht-Realen lässt offen, welche konkreten Umstände aus dem Spektrum des als unwirklich Empfundenen gemeint sind. Damit sind auch die Konsequenzen unklar. Die Sprache hält genügend andere Wörter bereit. Alle Argumente sollten sich formulieren lassen ohne das Mittel, einer Situation die Realität abzusprechen. Dem verwehren sich nur jene Argumente, die dieses Mittel benutzen, um verschiedene Fragen zu einer zu vermengen.

10.11.2012

Weitere Themen:
Wie Nachrichten die Welt zeichnen
Hoch lebe die kleine Idee
Über das beliebte Gleichsetzen von Korrelation und Kausalität
Die Welt auf dem Konto
Die Untauglichkeit von Glück als Ziel und Erfolgskriterium einer Gemeinschaft
Kann ein Spiegel Bewusstsein aufzeigen?
Vom bewussten Umgang mit begrenzter Intelligenz
Zwei Wege, aus Fehlern zu lernen
Empfehlungen sind deskriptive Aussagen
Die letzte Unterrichtsstunde
fernpunkt.steffengerlach.de | Kontakt | Impressum