Fernpunkt

Die Untauglichkeit von Glück als Ziel und Erfolgskriterium einer Gemeinschaft

Kurz: Glück ist, wenn Erwartungen übertroffen werden. Deshalb muss Glück durch Risiko erkauft werden. Dauerhaftes Glück kann es für eine Gemeinschaft nicht geben, wohl aber eine dauerhaft hohe und sogar wachsende Lebensqualität.

Glück ist launisch. Die gleiche Begebenheit kann mehr oder weniger glücklich machen, je nach dem, unter welchen Umständen sie sich ereignet. Eine Prämie zum Beispiel löst, wenn sie überraschend kommt, größere Freude aus, als wenn sie bekannten Regeln folgt und daher abzusehen war. Ebenso macht eine bestandene Prüfung nicht jeden gleichermaßen glücklich. Der schwache Schüler (für den der Erfolg ungewiss war) freut sich darüber mehr als der starke (der mit ihm rechnen durfte). Es gibt sogar Ereignisse, die die Stimmung manchmal heben und ein andermal senken. Regnerisches Wetter schlägt im Allgemeinen aufs Gemüt. War aber ein Schneesturm vorhergesagt, dann ist man froh, wenn es doch nur regnet.

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M. Leban

Abgesehen, gerechnet, vorhergesagt - der Wankelmut des Glücks ist nicht zufällig, er hat System. Das Glück, das eine Situation auslöst, hängt von den Erwartungen ab, die man zuvor an sie hatte. Übertroffene Erwartungen sind Glück, verfehlte sind Unglück.

Die Abhängigkeit des Glücks von den Erwartungen ist nicht erstaunlich; sie ist geradezu logisch. Praktisch jeder Mechanismus, der den Zweck hat, eine Größe zu messen, ist auf den Bereich ausgerichtet, in dem sich diese Größe erwartungsweise bewegen wird. Am offensichtlichsten ist das bei den von Menschenhand geschaffenen Messgeräten. Sie werden zum Zeitpunkt ihrer Produktion auf den Bereich der Erwartung festgelegt. So reicht das Fieberthermometer nicht bis zum absoluten Nullpunkt und das Tachometer im Auto nicht bis zur Lichtgeschwindigkeit; bei beiden umfasst die Skala gerade den realistisch zu erwartenden Bereich. Die Ausrichtung auf die Erwartung ist vorteilhaft, denn mit einem breiteren Messbereich hätten die Instrumente entweder ein schlechteres Auflösungsvermögen, oder sie wären aufwändiger herzustellen und zu betreiben.

Kaum anders verhält es sich mit den Messinstrumenten, die die Natur hervorgebracht hat: unseren Sinnen. Auch sie beruhen auf Naturgesetzen, auf Physik und Chemie, deshalb unterliegen auch sie unvermeidlich dem Zielkonflikt zwischen Messbereich, Auflösung und Aufwand. Hier ist es die Natur gewesen, welche die beste Antwort finden musste, und Teil dieser Antwort ist auch hier die Ausrichtung auf die Erwartung. Dabei gehen die Sinne in der Regel sogar noch einen Schritt weiter als das typische künstliche Messgerät; ihr Messbereich ist nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern er ändert sich mit den sich ändernden Erwartungen. Der Großteil dieser Anpassungen geschieht ohne Zutun des Bewusstseins, ihre Grundlage ist die einfachste aller Erwartungen, das Fortbestehen der gegenwärtigen Verhältnisse. Zugegebenermaßen ist das nicht die übliche Beschreibung dieses Vorgangs, der sogenannten Adaption. Im Allgemeinen spricht man eher davon, dass sich die Sinne an die Gegenwart anpassen. Aber die "Gegenwart" ist nichts anderes als die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Zukunft auf der Grundlage der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit.

Das bekannteste Beispiel für Adaption ist die Größenänderung der Pupille in Abhängigkeit von den Lichtverhältnissen: Wird es heller, dann unterstellt das Auge Helligkeit auch für die nächste Zukunft und erweitert seinen Messbereich durch Verengen der Iris. Der Messbereich bestimmt den Maßstab, in dem die Dinge erscheinen. Was vorher hell wahrgenommen wurde, ist nun dunkel. Analog, nur in der entgegengesetzten Richtung, verläuft dieser Vorgang, wenn es dunkler wird. Die Pupille weitet sich, der Maßstab streckt sich, und einiges von dem, was vorher dunkel erschien, wird nun hell.

Neben solchen eher schlichten Mechanismen haben auch die komplexen Erwartungen des Bewusstseins Einfluss auf Messbereich und Maßstab. Ein plötzlicher Einsatz von Instrumenten in einem Musikstück erscheint beim ersten Hören am lautesten, also dann, wenn der Verstand noch nichts von ihm weiß.

Das Glücksempfinden wird traditionell nicht den Sinnen zugerechnet, seine Funktion ist im Kern aber sehr wohl mit der eines Sinns vergleichbar. Ein Mensch kann sein Glück nicht festlegen, sondern es resultiert in irgendeiner Weise aus den Zuständen und Prozessen, die in seinem Körper, in seinem Geist und in seiner Umgebung vorliegen und ablaufen. Wie ein Sinn reduziert das Glück die unendliche Komplexität der Welt auf ein vergleichsweise kleines Bröckchen von Information, das vom Gehirn verarbeitet werden kann, um Situationen zu erfassen, Zusammenhänge zu erkennen und am Ende Entscheidungen zu treffen. Und wie einem Sinn liegen auch dem Glück, ungeachtet seiner zentraleren Rolle im Denken und seiner weniger direkten Verbindung zu realen Vorgängen, sehr reale Physik und Chemie zugrunde. Wieder ist der Konflikt zwischen Messbereich, Präzision und Kosten zu vermuten, wieder besteht eine günstige Lösung in fortgesetzter Anpassung. Es wäre erstaunlich, wenn das Glück nicht mit variablen Maßstäben operieren würde.

Was bedeutet das nun? Es gibt neben dem empfundenen Glück eine zweite relevante Größe, nämlich die absolute, die vom Glück ins Verhältnis zur Erwartung gesetzt wird. Es ist die Erfreulichkeit der Situation oder, wenn es um die dauerhafte Befindlichkeit jenseits von kleinen Überraschungen geht, die allgemeine Lebensqualität. Glück und Lebensqualität sind verschiedene Dinge, sie unterscheiden sich um den Faktor der Erwartung. Es ist überhaupt kein Widerspruch, wenn von zwei Personen oder von zwei Gemeinschaften eine die glücklichere ist und die andere die mit der höheren Lebensqualität. Sie hatten dann einfach verschiedene Erwartungen.

Nun verfolgen Menschen gern Ziele, und sie haben die Möglichkeit, ihr Umfeld zum eigenen Vorteil zu verändern. Die naheliegendste Idee ist dabei natürlich, auf ein Anwachsen des Glücks hinzuarbeiten, denn das Glück, nicht die Lebensqualität, ist, was man empfindet. Aber dieses Vorhaben, die konstante Vermehrung des Glücks, ist zum Scheitern verurteilt. Der Bezug des Glücks auf die Erwartungen vereitelt es zwangsläufig. Selbst das einfache Erhalten des Glücks ist nicht möglich.

Welche Projekte auch immer unternommen werden, um Glück zu erzeugen: Sobald ihre Umsetzung in allen Einzelheiten gewiss und vorhersehbar ist, müssen sie fehlschlagen. Aus ihnen erwächst dann kein Glück, denn auf diese Art werden keine Erwartungen übertroffen. Auch der Plan, einfach keine weiteren Veränderung vorzunehmen und eine glückliche Welt in diesem Zustand zu belassen, kann nicht gelingen. Das Glück würde verschwinden. Konstanz lässt weitere Konstanz erwarten, und sich erfüllende Erwartungen sind eben kein Glück, sondern nur die Abwesenheit von Unglück. Der Traum von der glücklich-unveränderlichen Welt ist eine Illusion.

Die eigenen Erwartungen lassen sich nur auf eine Art übertreffen: unsicher. Nur mit Ungewissheiten entsteht ein Potenzial für Glück, denn dann bewegt sich der Erwartungswert irgendwo zwischen Erfolg und Scheitern und kann deshalb mit dem Erfolg übertroffen werden. Aber Ungewissheiten bedeuten eben gerade, dass dieses Glück nicht sicher herbeigeführt wird. Je größer die Risiken des Vorhabens, desto größer das Glück, das sein Gelingen mit sich bringt, aber desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende nicht Glück sondern Unglück steht, weil das Vorhaben scheitert oder zumindest in einzelnen Belangen die Erwartungen verfehlt. Die Chance auf Glück muss mit der Gefahr des Unglücks erkauft werden. Ein Leben in permanentem Glück ist damit praktisch ausgeschlossen, ganz zu schweigen von dem Vorhaben, das Glück beständig anwachsen zu lassen.

Als letzter Ausweg für das dauerhafte Glück bleibt die Variante, dass die Erwartungen mathematisch nicht zu den tatsächlichen späteren Ereignissen passen; dass sie auf eine Weise davon losgelöst sind, die günstig für das Glück ist. Das ist nur in der Gemeinschaft möglich. Eine planende Elite, die selbst auf dauerhaftes Glück verzichtet, müsste die große Mehrheit gezielt falsch informieren, um so die Erwartung zu kontrollieren und fortgesetzt übertreffen zu können. Aber diese Lösung ist nicht nur intuitiv zweifelhaft und gruselig, sie würde auch nicht funktionieren. Die Geheimhaltung der Methoden würde diese nicht davor bewahren, dass ihre typischen Effekte irgendwann erwartet werden. Nach der Anpassung wäre Glück wiederum nur noch als Kontrast zu enttäuschten Erwartungen möglich. (Davon abgesehen, würde wohl allein die menschliche Neugier das Lügengebäude früher oder später zum Einsturz bringen.)

Dauerhaftes oder gar unendlich anwachsendes Glück kann nicht erreicht werden. Die Vorstellung, Fortschritt würde ein Anwachsen des Glücks bewirken, ja hätte das in der Vergangenheit schon tun müssen, um seinen Namen zu verdienen, ist verfehlt. Das Projekt, um das wir uns bemühen und damit tatsächlich Erfolg haben können, ist nicht die Vermehrung des Glücks, sondern das Steigern der Lebensqualität, auch wenn wir über keinen Sinn verfügen, der uns diese Größe unmittelbar liefert.

Beruhigend ist dabei, dass man mit diesem Bestreben auch den Wettbewerb auf seiner Seite hat. Eine Gemeinschaft mit großem Glück aber nur mittlerer Lebensqualität ist neben einer mit hoher Lebensqualität aber nur mittlerem Glück nicht konkurrenzfähig. Die Bewohner beider Welten würden sich, wenn sie die Wahl hätten, für das Leben in letzterer entscheiden. Denn der Einzelne misst das Leben in einer Gemeinschaft an seinen aktuellen eigenen Erwartungen, nicht an denen, die er als Teil dieser Gemeinschaft hätte.

Damit sind solche Entscheidungen, real oder hypothetisch, im Übrigen auch eine Möglichkeit, höhere und geringere Lebensqualität zu unterscheiden. Sie sind die einzige.

28.12.2011

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