Fernpunkt

Zwänge und Einbildungen von solchen

Kurz: Wirtschaftlicher Wettbewerb dreht sich nicht um Leistung, sondern um das Verhältnis aus Leistung und Preis. Deshalb bringt er für die Menschen keine grundlegenden Zwänge mit sich. Die Freiheit nimmt uns allenfalls ein anderer Wettbewerb, nämlich der soziale.

Wer im Supermarkt Zahncreme kaufen möchte und auf das attraktivste Angebot aus ist, der sucht im Regal nicht einfach nach der größten Tube. Er hat vielmehr zwei Werte im Auge: die Menge und den Preis. Entscheidend ist das Verhältnis von beiden. Am Ende kann, auch wenn es praktisch unwahrscheinlich ist, sogar die kleinste Packung das beste Angebot sein. Es ist nicht die höchste erbrachte Leistung, worum die Zahncremetuben miteinander konkurrieren, sondern das Verhältnis aus Leistung und Preis. Gleiches gilt für fast jedes andere Produkt. Auf dem Wochenmarkt hat es nicht der Bauer schwer, der die kleinste Ladung Eier abzuverkaufen versucht, sondern der, der den höchsten Preis pro Stück berechnet. Wo immer ein Wettbewerb letztendlich auf Handelsgeschäften beruht, entscheidet über das Bestehen in diesem Wettbewerb nicht die absolute Leistung, sondern das Verhältnis zur geforderten Gegenleistung.

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Emilia Stasiak

Man mag die Relevanz dieses mathematischen Unterschieds nicht sofort ersehen, aber es geht dabei um etwas sehr wichtiges: um Freiheit. So manche Zukunftsangst beruht auf der irrigen Vorstellung vom Wettbewerb um die größte Leistung. In der Tat: Würde über das Bestehen im Wettbewerb die absolute Leistung entscheiden, dann wäre das ganz furchtbar, und man müsste Schlimmes für die Menschheit befürchten. Es bliebe den Menschen und den Völkern am Ende keine andere Wahl, als ihr Leben so zu gestalten, dass sie die größte ihnen mögliche Leistung erbringen. Aller Spielraum ginge verloren. Es gäbe keinen Platz mehr für Vergnügen, für Geruhsamkeit, für Grübeleien. Es gäbe keinen Platz mehr dafür, bei der Arbeit das Risiko für die eigene Gesundheit gering zu halten oder Schäden an der Umwelt zu vermeiden. Alle zivilisatorischen Errungenschaften, die ein Stück vom Output abknabbern, müssten letztendlich aufgegeben werden, weil im Wettbewerb immer der bevorteilt wäre, der sie nicht praktiziert. Eine Befreiung von diesem Terror wäre nur durch gezieltes Verhindern eines Wettbewerbs möglich, also durch so etwas wie globale Übereinkünfte.

Aber so ist es eben nicht. Ob einer im Wettbewerb besteht oder nicht, entscheidet sich am Preis-Leistungs-Verhältnis seines Angebots. Jede Alternative mit verminderter Leistung kann durch proportionalen Verzicht auf Gegenleistung "erkauft" werden. Das beginnt schon bei dem, der direkt seine Arbeitskraft verkauft. Theoretisch könnte ein Mensch nur zwei Stunden am Tag arbeiten und damit absolut konkurrenzfähig sein, wenn er sich mit einem entsprechend geringen Einkommen zufrieden gibt und damit auskommt. (Praktisch wäre das wohl nicht ganz so einfach, aber nur, weil das Anliegen doch recht ungewöhnlich ist.) Natürlich wäre das Leben, das damit einherginge, für die meisten Menschen nicht akzeptabel, weshalb sie doch irgendwie dem "Zwang" ausgesetzt sind, mehr zu arbeiten als zwei Stunden am Tag. Das ist aber nur die Art von Unfreiheit, wie sie immer und überall und auch ohne den Wettbewerb schon besteht. Mehr Ertrag erfordert mehr Aufwand, das gilt selbst für Robinson auf der einsamen Insel.

Auch auf der kollektiven Ebene gibt es diese Art von Kompromiss. Dass Gebräuche wie zahlreiche Urlaubstage oder Arbeits- und Umweltschutz allein die Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern, heißt überhaupt nicht, dass sie nicht praktiziert werden können. Sie vermindern nur die Leistung, deshalb genügt zur Kompensation ein Verzicht auf Gegenleistung. Das ist keine rein hypothetische Möglichkeit, die sich praktisch aus irgendwelchen Gründen verbietet, und auch kein Plan B für Schwächlinge. Es ist zutiefst vernünftig und etwas, das wir längst tun. Wettbewerb dreht sich um einen Quotienten; Dividend und Divisor stehen jedem Teilnehmer frei, solange sie nur im richtigen Verhältnis stehen. Wenn irgendwer, etwa die vielgefürchteten Chinesen, den Kompromiss für sich auf eine spezielle Art wählt, dann sind nicht alle anderen Wettbewerber zur gleichen Wahl gezwungen. Im Übrigen gilt auch hier wieder: Am Fehlen einer Möglichkeit, die alle Vorteile vereint, ist der Wettbewerb unschuldig. Das Dilemma ist natürlich und unumgänglich. Für Vorzüge wie Freizeit oder eine saubere Umwelt muss mit dem Verzicht auf einige Wohlstandsartikel bezahlt werden; mit Wettbewerb oder ohne.

Natürlich ist das alles nur die halbe Wahrheit. Um ein erfülltes Leben zu haben, setzen Menschen sich Ziele, sie bewerten ihren eigenen Werdegang am Erreichen dieser Ziele, und sie bewerten daran auch das Leben anderer. So kommt es, dass die Alternativen, die der wirtschaftliche Wettbewerb zunächst erlaubt und wertfrei nebeneinander stellt, mit unterschiedlichem Ansehen verbunden sind. Das ändert die Situation erheblich. Ein Mensch könnte die technische Frage, welcher Kompromiss zwischen Arbeit, Konsum, Freizeit, Sicherheit und angenehmer Umgebung für ihn der beste ist, ganz nüchtern angehen. Entscheidungen mit sozialer Relevanz aber sind emotional unfrei. Niemand möchte ein Versager sein. Dass so am Ende ein beträchtliches Maß an praktischer Unfreiheit entsteht, ist gut möglich, aber dann sollte in Erinnerung bleiben, wer es verschuldet: nicht der Wettbewerb nämlich, sondern unsere menschliche Natur.

16.02.2012

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