Fernpunkt

Der Segen der Auslese

Wie entsteht Fortschritt?

Der Blick auf die kollektive Vergangenheit ist verzerrt, besonders wenn er nur die bekanntesten Tatsachen einbezieht. Er findet überproportional oft die Faktoren vor, die große und anhaltende Bekanntheit begünstigen. Das kann bis dahin reichen, dass ganz untypische Umstände oder Abläufe, wenn sie nur häufig genug eine große Beachtung zur Folge hatten, im flüchtigen Blick zurück als ziemlich normal erscheinen. Durch die systematische Auslese von Informationen entsteht ein schiefes Bild.

Unter anderem gilt das für das Verhältnis von Erfolg und Misserfolg. Informationen über historische Erfolge sind nicht nur interessanter also solche über historische Misserfolge, sie sind auch stärker mit uns verbunden, weil sie den Hintergrund unserer Lebensweise bilden. So wissen vermutlich viel mehr Menschen über die Erfindung des Motorflugzeugs Bescheid als über die gescheiterten Bemühungen mit Konstruktionen in der Art eines Hubschraubers, die es zur gleichen Zeit gab. Zudem: Man muss eine Erfolgsgeschichte nicht einmal kennen, um zu wissen, dass es sie gibt. Hinter hundert Alltagsgegenständen stehen hundert Erfolgsgeschichten, wie auch immer sie aussehen. Irgend einer hat unzweifelhaft das Motorflugzeug erfunden; allein aus der Existenz des Objekts ergibt sich die Existenz der Geschichte. Die Indizien von Erfolgen überdauern im Gegensatz zu denen von Misserfolgen die Zeiten, und so sind wir von ihnen umgeben. Unser Blick ist tendenziös eingeschränkt, und er lässt den Erfolg ganz allgemein sehr wahrscheinlich aussehen.

illustration

O. Stoica

Eine zweite Verzerrung wird nicht durch einen Mangel an Wissen hervorgerufen, sondern gewissermaßen durch ein Zuviel davon. Der Rückblick fügt jeder Geschichte eine Information hinzu, nämlich ihren Ausgang. Wer aber mit Leichtigkeit davon erfährt, welches Ende eine Sache genommen hat, der unterstellt den Beteiligten schnell, sie hätten es mit ebensolcher Leichtigkeit kommen sehen. Damit verschwindet das einstige Hauptproblem aus dem Bild, nämlich die zunächst noch fehlende Erkenntnis. Alles erscheint offensichtlich: geeignet und nutzlos, überlegen und nachteilig, klug und dumm.

Zusätzlich werden wir durch eine Alltagserfahrung in die Irre geführt. Wenn Handlungen zu einem erfreulichen Ergebnis führen, dann verdanken sie das in der Regel einem absichtsvollen, geplanten Vorgehen. Das gilt auch und erst recht für große, arbeitsteilige Projekte - Brücken, Kinofilme, Mobilfunknetze. Es werden Teilaufgaben festgestellt, Lösungsvarianten entwickelt und verglichen, Entscheidungen getroffen, Ressourcen zugewiesen. Der Gedanke, dass Gutes nur auf diese Art entstehen kann, wenn man nicht auf glückliche Zufälle hoffen will, ist tief in uns verwurzelt.

Die Verzerrungen und Analogieschlüsse lassen ein bestimmtes Bild vom Verlauf des Fortschritts entstehen. Fortschritt, so erscheint es, besteht darin, zielstrebig und möglichst planvoll die offensichtlichen nächsten Schritte auf dem Weg in die Zukunft zu tun. Diese Vorstellung verträgt sich durchaus mit einem oberflächlichen Blick in die Vergangenheit, denn dieser liefert genau das, was man erwartet: Ein Feuerwerk großartiger Leistungen, eine Abfolge von fast ausschließlich guten neuen Ideen und ihrer erfolgreichen Umsetzung. Die Menschheit brachte das Rad hervor, das Buch, das Telefon, das Kino, das Auto, den Computer, das World Wide Web. Sicher, es gab immer Dummköpfe, die an der Entwicklung zweifelten oder sich für idiotische Gegenentwürfe stark machten. Manchmal schafften sie es sogar, den Fortschritt zu bremsen, aber sie blieben doch immer Randfiguren. Im Großen und Ganzen war die Richtung des Fortschritts bekannt.

Schon das Allgemeinwissen hält Indizien dafür parat, dass dieses Bild falsch ist. Zum Beispiel ist da die Tatsache, dass die Verfechter fortschrittlicher Ideen häufig nicht einer akzeptierten Elite angehörten. Zu Anerkennung gelangten sie erst, nachdem sich ihre Idee bewährt hatte, und natürlich werden viele von ihnen heute als Helden gefeiert. Aber zu der Zeit, als sie die Idee vorbrachten, gehörten sie oft nicht zum Kreis der angesehensten Experten. Vielmehr hatten sie diese häufig gegen sich. Viele der Konzepte, die heute unser Leben ausfüllen, wurden in ihren Anfangstagen sowohl von den Meinungsmachern als auch von der Fachwelt (soweit vorhanden) als nutzlose Spielereien verspottet, sei es das WC, das Automobil, das Kino, die Digitalfotografie. In anderen Fällen erkannten diese Gruppen nur einen sehr viel geringeren Nutzen als den, der sich später einstellte. Gleichzeitig wuchs sich natürlich nicht jede unbedeutend erscheinende Entwicklung zur Revolution aus, und nicht jede nutzlose Spielerei war ein verkannter Fortschritt - im Gegenteil, die meisten waren tatsächlich nutzlos.

Unter solchen Umständen kann man nicht davon sprechen, die Richtung der Entwicklung sei bekannt gewesen. Vielleicht mag man dieses Wissen bei den Anhängern der guten Ideen sehen, aber aus Sicht der Gemeinschaft war das nur ein "Wissen", wie es all die anderen Spinner mit ihren Ideen auch zu haben glaubten. Erst später, als die meisten der vielen schlechten Ideen von einst nach und nach aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwanden und nur die wenigen guten in Gebrauch und somit in Erinnerung blieben, erschien der Weg in die Zukunft, die nun die Gegenwart war, offensichtlich. Zunächst war die Richtung des Fortschritts oftmals unbekannt - wie hätte er also zielgerichtet vorangetrieben werden können?

Umgekehrt erwies sich so manche Fortschrittseuphorie im Laufe der Zeit als verfehlt. So beim Zeppelin oder dem Wankelmotor. Andere Konzepte haben bei weitem nicht die Verbreitung gefunden, die man aufgrund ihrer Vorteile hätte erwarten können, das Bildtelefon zum Beispiel. Was hat die Menschheit davon abgehalten, diese Ideen konsequent umzusetzen, wenn sie doch für fortschrittlich befunden wurden?

Die anschaulichsten Beispiele entstehen, wenn beide Richtungen der Fehleinschätzung zusammentreffen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg glaubte man sich an der Schwelle zu einer neuen Ära. Es gab zwei sehr beeindruckende neue Technologien, die, so die Vorstellung, den Alltag revolutionieren würden: die Kernenergie und die bemannte Raumfahrt. Man sah die nachfolgenden Generationen in atomgetriebenen Autos fahren und Stationen auf dem Mond betreiben. Richtig daran war nur Eins: Eine Zeitenwende bahnte sich an. Denn noch eine dritte Technologie war im Entstehen, kaum beachtet von der Öffentlichkeit und in ihrer damaligen Erscheinung wenig sexy für Fortschrittsenthusiasten und Visionäre. Eine Technologie, in der kaum einer mehr zu sehen vermochte als eine Arbeitserleichterung für Mathematiker: Computer. Zwei Generationen später war die Welt eine andere, aber mit Atomkraft und bemannter Raumfahrt hatte die Veränderung wenig zu tun.

Die Pointe zu dieser Geschichte ist, dass es in jener Periode einen planwirtschaftlich orientierten Ostblock gab, geleitet von der Absicht, den Fortschritt mit der geballten Kraft des Kollektivs gezielt voranzutreiben. Zufall oder nicht: am Ende blieb dieses System auf den Gebieten der vermeintlichen Zukunft leidlich konkurrenzfähig, während es zum Weg in die tatsächliche Zukunft nichts beitragen konnte.

Die meisten großen und wichtigen Fortschritte wurden nicht auf der Grundlage eines einvernehmlichen Plans erzielt. Das zeigt kein Versagen früherer Generation an, sondern es ist die zu akzeptierende Normalität. Auf fokussierte Art ist ein Fortschritt in der bekannten Qualität nicht zu erreichen.

Das hat vor allem drei Gründe. Erstens ist die menschliche Fantasie begrenzt. Befriedigte Grundbedürfnisse sind noch leicht vorstellbar, aber ein erfülltes Leben ist mehr als das, und dafür gibt es unendliche Möglichkeiten. Man kann nicht gezielt einen Zustand anstreben, den man sich nicht einmal vorstellen kann.

Zweitens zeigen viele Entwicklungen im fortgeschrittenen Stadium einen Nutzen, der zu Beginn nicht abzusehen war. Das gilt natürlich besonders für die Grundlagenforschung und für elementare Konstruktionen; historische Beispiele sind das Mikroskop oder der Verbrennungsmotor. Hätten sich die Menschen seit der Steinzeit konsequent den erkennbar nützlichsten Entwicklungen zugewandt und dementsprechend jedes Betreiben, das in den Vorstellungen der jeweiligen Zeit weder Hunger noch Seuchen abwenden würde, als Verschwendung von Ressourcen verachtet und unterlassen, dann wären Hunger und Seuchen heute nicht geringer ausgebildet, als sie es sind, sondern stärker. Kaum eine der komplexen Technologien unserer Zeit kam bei ihrer Entwicklung mit Vorarbeiten aus, die mit der Ahnung dieser späteren Anwendung geleistet wurden.

Drittens genügt die Information, welche Möglichkeit auf welchem Weg realisiert werden könnte, sowieso nicht, um zu wissen, welche Möglichkeit realisiert werden sollte. Die Konzepte konkurrieren miteinander, etwa wenn sie den gleichen Zweck erfüllen oder auf die gleichen Ressourcen angewiesen sind. Das Ziel ist nicht, in der Zukunft alle Konzepte zu betreiben, die zu betreiben möglich sein wird, sondern unter den aberwitzig vielen möglichen nur die attraktivsten.

Die Attraktivität eines Konzepts ist der mit ihm verbundene Gewinn an Lebensqualität, vermindert um den Verlust an selbiger und zuletzt ins Verhältnis gesetzt zu den nötigen Ressourcen, zum Beispiel Arbeitskraft. All diese Faktoren verändern sich aber im Laufe der Reifung des Konzepts, und diese Entwicklung ist unmöglich vorherzusehen. Produkte zum Beispiel werden besser, sparsamer, billiger; mal mehr, mal weniger. Manchmal gelingt es, grundlegende Schwachpunkte eines Konzepts zu beheben, manchmal nicht. Fast immer können Abläufe rationalisiert werden, aber ob nun extrem oder nur mäßig, das ist zu Beginn kaum absehbar. Wer hätte richtig vorausgesagt, dass im Jahre 2012 so eine simple, altertümliche Konstruktion wie ein Haus das tausendfache eines Halbleiterchips kosten wird, der aus Hundertmillionen von winzigen, spezialisierten Bausteinen besteht, und an dessen Entwicklung und Herstellung viele tausend Menschen beteiligt sind? Man denke an all die klugen, oft überraschenden Ideen, die Produktgestalter und Ingenieure im Laufe der Zeit einbringen, und von denen die Entwicklung des Konzepts abhängt - welcher Planer wollte die im Voraus schon berücksichtigen? Ohne das Ergebnis der Entwicklung zu kennen, ist nicht feststellbar, welches unter konkurrierenden Konzepten das attraktivste ist. Logische Überlegungen, die man im Vorfeld anstellen könnte, zum Beispiel unter Berufung auf einzelne Vorteile oder Nachteile eines Konzepts, helfen nur begrenzt, denn am Ende geht es um Verhältnisse. Ein Vorteil beim Aufwand etwa kann viele logische Nachteile kompensieren.

Die Attraktivität des Konzepts, Energie mittels Kernspaltung zu gewinnen, ist heute so weit gemindert, dass es nur noch als Notlösung gilt und nicht mehr als Zukunftstechnik. Wodurch? Durch Unfallrisiko und Abfall; Probleme also, die wir im fortgeschrittenen Stadium als beträchtlich kennen, die man aber in den Anfängen aufgrund früherer Erfahrungen mit anderen Techniken leicht für überwindbar halten konnte. Und was die bemannte Raumfahrt angeht: Sie ist immer noch interessant, aber es gibt eben noch viele andere interessante Dinge, mehr als erwartet und häufig mit gutem Aufwand-Nutzen-Verhältnis, da bleibt nur ein kleines Stück vom Kuchen.

Fortschritt existiert, das wird hier nicht bestritten. Wir haben eine beachtliche Entwicklung genommen über die Jahrhunderte. Aber etwas stimmt nicht an der Vorstellung, wir hätten diesen Vorgang gesteuert. Uns fehlt die dafür nötige Kompetenz. Wir wissen weder, wohin die Reise geht, noch, wohin sie gehen sollte.

(Fortsetzung in Teil 2)

03.11.2012

Weitere Themen:
Wie Nachrichten die Welt zeichnen
Hoch lebe die kleine Idee
Über das beliebte Gleichsetzen von Korrelation und Kausalität
Die Welt auf dem Konto
Die Untauglichkeit von Glück als Ziel und Erfolgskriterium einer Gemeinschaft
Kann ein Spiegel Bewusstsein aufzeigen?
Vom bewussten Umgang mit begrenzter Intelligenz
Der Baukasten des Unwirklichen
Zwei Wege, aus Fehlern zu lernen
Empfehlungen sind deskriptive Aussagen
Die letzte Unterrichtsstunde
fernpunkt.steffengerlach.de | Kontakt | Impressum