Fernpunkt

Der Segen der Auslese

Wie entsteht Fortschritt?

(Fortsetzung von Teil 2)

Neben solchen Trugschlüssen zieht der Charakter des Fortschritts aber auch eine ganze Reihe von richtigen Konsequenzen theoretischer und praktischer Art nach sich; ein paar davon seien im Folgenden angedeutet.

Erstens: Wenn neue Technologien neue Möglichkeiten eröffnen, dann ist es unangebracht, gleich in Verwunderung oder Entsetzen darüber auszubrechen, was für eine seltsame Zukunft sich da anbahnt. Die meisten der eröffneten Möglichkeiten werden kein relevanter Teil der Zukunft werden - so, wie schon die Gegenwart mitnichten eine Ansammlung all dessen ist, was heute technisch möglich wäre. Es darf eine Auslese im Interesse der Allgemeinheit erwartet werden.

Zweitens: Die gegenwärtig vorherrschenden Konzepte sind ganz überwiegend vorteilhaft gegenüber konkurrierenden Konzepten, die vergleichbar einfach zu betreiben wären, denn sie haben sich aufgrund menschlicher Entscheidungen gegen diese durchgesetzt. Das gilt umso mehr, je experimentierfreudiger die Gesellschaft im jeweiligen Bereich über die Jahrzehnte oder Jahrhunderte gewesen ist. Die vorherrschenden Konzepte sind nicht perfekt, aber weitere Verbesserungen führen in der Regel zu größerer Komplexität, hin zu Konzepten, die noch nicht ausprobiert wurden. Man hat oft den Eindruck, der Wechsel zu alternativen Konzepten von gleicher oder sogar geringerer Komplexität müsse aufgrund irgendwelcher Argumente eine Verbesserung bringen. Solche Gedanken können richtig sein, aber wahrscheinlicher ist, dass dabei Zusammenhänge nicht bedacht werden und die vermeintlich bessere Variante in der Summe aller Umstände in Wahrheit die schlechtere ist.

Ein Beispiel: Menschen klagen häufig darüber, dass technische Produkte gelegentlich Fehler aufweisen. Aber in der Welt der Konsumartikel finden Variation und Auslese massiv statt, was vermuten lässt, dass das vorherrschende Konzept der moderat fehlerhaften Produkte ein Optimum darstellt. Und tatsächlich: Ein komplexes Produkt völlig fehlerfrei zu gestalten und sich dessen sicher zu sein, würde einen enormen Aufwand und einen entsprechenden Preis mit sich bringen. Bei den meisten Arten von Produkten ist es günstiger, ab und zu einen Fehler hinzunehmen, als auf eines von zwei Produkten zu verzichten.

Drittens: Das Verständnis der Menschen für ein Konzept, das sie betreiben, kann sehr dürftig sein. Um es zu wählen, genügt das Wissen, dass dieses Konzept anderen überlegen ist oder einen bestimmten erwünschten Effekt hat. Das Wissen, warum das der Fall ist, bildet keine Voraussetzung und ist daher auch nicht immer vorhanden. Zugespitzt könnte man sagen: Wir wissen nicht, was wir tun. Die menschlichen Errungenschaften übersteigen an vielen Stellen die menschliche Erkenntnis - Experiment und Auslese machen es möglich.

Viertens: Wir haben über den Fortschritt nicht das Maß an Kontrolle, das wir gern hätten. Da uns nicht jeder Grund für die Vorteilhaftigkeit eines praktizierten Konzepts bekannt ist, können gut gemeinte Änderungen den Vorteil vermindern und damit sehr wohl Verschlechterungen sein. Man denke nur an die überwiegend kläglich gescheiterten Versuche, in ganz großen Schritten einer besseren Welt entgegen zu eilen. Die Menschheit hat viele ihrer bisherigen Erfolge nur mit der Kraft der Auslese erreichen können. Sobald sie auf diese Kraft verzichtet und statt dessen allein ihrer Intelligenz vertraut, sind schlechte Ergebnisse absehbar. Eine Änderung sollte als ein Experiment begriffen werden, nicht als eine gesicherte Vorwärtsentwicklung. So unbefriedigend es ist: Das Verhältnis von Handlungen zum Fortschritt lässt sich erst im Nachhinein sicher erkennen. Aktuelle eigene Bemühungen "progressiv" zu nennen oder fremde "reaktionär", wie es von manchen gern getan wird, ist zweifelhaft, denn es setzt die Kenntnis der Richtung des Fortschritts voraus. Eine Entwicklung in die falsche Richtung voranzutreiben, wäre nicht fortschrittlich, und eine solche zu bekämpfen nicht rückwärtsgewandt.

Fünftens: Der scheinbar größte Beweis für die überragende menschliche Intelligenz, nämlich das Entstehen all der technischen und kulturellen Errungenschaften, taugt als solcher nur bedingt. Ein Vorgang beweist keine größere Intelligenz als die, die er erfordert. Damit ein Fortschritt durch Variation und Auslese in Gang kommt, genügen Voraussetzungen von durchaus irdischer Art: Neugier, Kommunikation, ein kollektives Gedächtnis und ein ausreichendes Abstraktionsvermögen, um Erfahrungen aus der Vergangenheit auf neue Situationen übertragen zu können. Nur dieses Maß an Intelligenz, etwas höher als das von Tieren, wird durch die Existenz unserer Errungenschaften bewiesen. Andererseits ist es für die Geschwindigkeit, mit der sich die Errungenschaften einstellen, nicht unwichtig, wie stark unsere Intelligenz dieses Mindestmaß übersteigt - dazu später mehr. Unser Verstand nimmt in unserer Entwicklung nicht die Funktion eines Lenkers ein, sondern die eines Katalysators. Aus dem menschlichen Fortschritt auf die Größe der menschlichen Intelligenz zu schließen, ist schwierig. Die Dominanz kluger Konzepte in der Welt der Menschen ist jedenfalls nicht überwiegend der Klugheit der Menschen zu verdanken, sondern der enormen Langlebigkeit kluger Konzepte im Vergleich zu dummen.

Sechstens: Die übliche Schwarzweißmalerei in Bezug auf die Geschichte des Fortschritts, die den Verfechter der besseren Idee als Genie preist und den Verfechter der schlechteren als Dummkopf dastehen lässt, ist verfehlt. Es besteht nur ein lockerer, kein strenger Zusammenhang zwischen Klugheit und Fortschritt. Es gibt eine Zufallskomponente. Oft braucht es keine überlegene Intelligenz, um den Fortschritt voranzutreiben; es genügen Engagement und das Glück, aufs richtige Pferd zu setzen. Es ist zweifelhaft, erfolgreiche Projekte pauschal als Geniestreiche und erfolglose als überflüssige Dummheiten zu betrachten. Durchbrüche und Fehlschläge bilden eine gemeinsame Versuchsreihe. Sich auf die Durchbrüche zu beschränken und die Fehlschläge wegzulassen, kann ein Wissen erfordern, das die Versuchsreihe selbst erst ergibt.

Wir mögen heute lachen oder den Kopf schütteln über so manchen historischen Versuch, ein Problem zu lösen, zum Beispiel Krankheiten zu heilen oder dem Menschen das Fliegen zu ermöglichen. Zunächst aber war alles andere als offensichtlich, wie tauglich die verschiedenen denkbaren Methoden sein würden. Es ist zu unterscheiden zwischen Unsinn, der auch zu seiner Zeit schon als solcher erkennbar war, und den übrigen letztendlich erfolglosen Bemühungen, die sehr wohl ein notwendiger Teil des Prozesses gewesen sind, den wir Fortschritt nennen.

Der nur lockere Zusammenhang zwischen Klugheit und Fortschritt gilt natürlich auch für die Gegenwart. Oft begegnet man der Vorstellung, Fortschritt lasse sich allein mit Klugheit und hinreichenden Ressourcen erzwingen. Das ist ein Irrtum. Es ist zum Beispiel absolut erklärlich, dass gute Innovationen oft von kleinen Unternehmen ausgehen statt - wie offenbar erwartet - von etablierten Großkonzernen. Darin liegt im Allgemeinen kein Versagen der Konzerne, zumindest kein vermeidbares. Die aufstrebenden Unternehmen sind nämlich nicht die kleinen Unternehmen mit den neuen Ideen, sondern wenige unter tausenden. Für eine einzelne Organisation ist es schwer, sich die Kraft der Auslese nutzbar zu machen, während das in einer Gruppe von ganz allein passiert.

Siebtens: Fortschritt wird durch Vielfalt begünstigt. Je weniger Varianten ausprobiert werden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, eine günstige Möglichkeit zu verpassen. Wie wichtig die Vielfalt bei einer Entwicklung durch Variation und Auslese ist, lässt sich kaum besser demonstrieren, als es die Natur an ihren Lebewesen tut - zum Beispiel an uns selbst. Es gibt große Menschen und kleine, dicke und dünne, aggressive und friedfertige, mutige und ängstliche, faule und fleißige, intelligente und dumme. Es gibt alle möglichen körperlichen und mentalen Anomalien. In der Regel sind das keine Unfälle, sondern es ist Teil der Überlebensstrategie der Art. Vielleicht erweist sich ja eine der Varianten als gute Idee, und zwar in keinem geringeren Sinn, als dass sie das nackte Überleben möglich macht.

In gleicher Art hängen der technische und der kulturelle Fortschritt vom Reichtum an Varianten ab, der durch uns Menschen hergestellt wird. Werte wie Freiheit, Toleranz und Vielfalt werden nicht nur um ihrer selbst Willen praktiziert, sie sind Faktoren des Fortschritts. Auch individueller Optimismus, obwohl es sich dabei genau genommen um eine Art von Denkfehler handelt, eine systematische Fehleinschätzung, fördert die Experimentierfreude in der Gemeinschaft und damit den Fortschritt.

Beim Verhältnis zwischen Vielfalt und Fortschritt kommt nun doch die menschliche Intelligenz ins Spiel. Prinzipiell braucht Vielfalt keine Intelligenz. Auch eine ganz zufällige Variation landet ab und zu einen Treffer, der über den Weg der Selektion eine Veränderung bewirkt. Ganz langsam kann auf diese Art eine Entwicklung zustande kommen; die Entstehung der Arten beweist es. Aber erst eine intelligente Variation bringt diesen Vorgang auf die Geschwindigkeit, die wir mit Fortschritt verbinden. Mit intelligenter Variation hat der Mensch innerhalb von ein paar Jahrtausenden Dinge erreicht, die die Natur mit ihren Launen wohl bis ans Ende der Welt nicht zu Wege gebracht hätte. Intelligenz verschiebt den Schwerpunkt der Experimente zu den vielversprechendsten hin. Dabei spielt Planung eine extrem wichtige Rolle - auf der Ebene des Experiments wohlgemerkt, nicht auf der Ebene des Fortschritts selbst. Der Plan macht ein Vorgehen zu einem aussichtsreicheren Experiment, aber er macht es nicht per se zu einem Fortschritt. Ob der Plan zum Fortschritt beiträgt, entscheidet sich am Ergebnis seiner Umsetzung und im Vergleich mit den Ergebnissen anderer Pläne.

Einen günstigen Reichtum an Varianten herzustellen, ist also nicht einfach. Es bedeutet nicht, alle Energie einfach auf das blinde Maximieren der Vielfalt zu verwenden. Ein Großteil des Bemühens sollte durchaus dem Ziel dienen, dass die Varianten, die nach menschlichem Ermessen die vielversprechendsten sind, tatsächlich umgesetzt und so getestet werden. Für andere Ideen bleibt folglich weniger Raum, nur sollte es eben nicht kein Raum sein. Ein Perfektionismus, der alle außer den vermeintlich besten Lösungen und Vorgehensweisen verbietet, ist fortschrittsfeindlich. Die klügsten Versuche sind nur mit erhöhter Wahrscheinlichkeit die besten, nicht mit Sicherheit. Es kommt auf die richtige Balance an.

Auch wird das Herstellen von Vielfalt dadurch verkompliziert, dass ein Variantenreichtum in einem Bereich ungünstig auf den Variantenreichtum in einem anderen Bereich wirken kann. Aus der allgemeinen Forderung nach Vielfalt lässt sich keine analoge Forderung für jede Einzelfrage ableiten. Unter einem Chaos bei Maßeinheiten, Währungen oder technischen Standards zum Beispiel würden alle leiden, die mit diesen Instrumenten arbeiten müssen, um das "Chaos" bei Produkten und Dienstleistungen zu vergrößern. Wieder läuft es auf das Bemühen hinaus, eine gute Balance zu finden. Der prinzipielle Nachteil des Chaos ist seine sofortige Ineffizienz. Dem stehen die erhofften Vorteile in der Zukunft entgegen, die sich ohne das Chaos nur schwer entwickeln können - unter anderem auch eine wachsende Effizienz. Die allgemeine Strategie könnte so aussehen, Ordnung dort zu schaffen, wo sich Vielfalt allzu ungünstig auf andere Bereiche auswirkt, und Chaos dort zuzulassen und zu fördern, wo unter komplexen Zusammenhängen eine starke Weiterentwicklung gewünscht ist. Schwierig wären dabei freilich die Bereiche, für die beides gilt, zum Beispiel die Gesetzgebung.

Natürlich gibt es Vielfalt nicht kostenlos. Parallel mehrere Konzepte zu betreiben, ist für die Gemeinschaft in der Regel aufwändiger, als sich auf eins zu beschränken. Aber die Ressourcen für den Wettbewerb der Konzepte sind nicht verschwendet, sondern der Preis für einen enormen Gewinn.

11.12.2013

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